In der vergangenen Woche trafen wieder einmal russische Gleitbomben das Zentrum der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw im Nordosten des Landes. Die erste beschädigte am Donnerstag mehrere Wohnhäuser und setzte zahlreiche Fahrzeuge in Brand. Die zweite traf ein Firmengebäude. Mindestens 33 Menschen wurden Behördenangaben zufolge verletzt, darunter vier Kinder.
„Dies sind völlig sinnlose Angriffe ohne jeden militärischen Zweck“, schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Telegram. „Das einzige Ziel Russlands ist es, seine Aggression fortzusetzen und zu töten.“
Kurz zuvor hatte ein russischer Drohnenschwarm historische Sehenswürdigkeiten und Teile der von der Unesco geschützten Altstadt in Odessa schwer beschädigt – darunter den ikonischen Markt Prywos, ein fast 200 Jahre altes Symbol der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Zahlreiche Angriffe wurden zudem aus den Regionen Tscherkassy, Saporischschja, Donezk, Sumy und Mykolajiw gemeldet. Und auch am Wochenende hielten die Luftschläge weiter an.
Hauptziel der Attacken in der Nacht zu Samstag war die Region Dnipropetrowsk. Der dortige Gouverneur Serhij Lyssak schrieb bei Telegram von einer „schrecklichen Nacht“. In der Stadt Dnipro und Umgebung seien drei Menschen getötet und sechs verletzt worden.
Seit Februar 2022 verteidigt sich die Ukraine gegen die russische Invasion, doch erst seit wenigen Monaten finden regelmäßig derart flächendeckende und massive Angriffswellen statt. Hunderte Schahed-Drohnen, begleitet von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, terrorisieren die Bevölkerung der Ukraine wie selten zuvor. Nach deutschen und ukrainischen Einschätzungen könnten die russischen Streitkräfte bis November 2025 in der Lage sein, die Ukraine in einer einzigen Nacht mit bis zu 2000 Drohnen anzugreifen, schreibt die amerikanische Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW). Solche Attacken sollen Teil einer neuen Großoffensive Moskaus im Herbst sein.
Schon heute nimmt Putins Armee neben zivilen Einrichtungen auch vermehrt die Militärinfrastruktur ins Visier. Dazu gehören Rekrutierungsbüros, Luftwaffenbasen und Rüstungsbetriebe weit hinter den Frontlinien sowie Stellungen der ukrainischen Streitkräfte entlang der Kontaktlinie.
So hat Moskau etwa die Frequenz seiner Luftangriffe auf die seit Monaten umkämpfte Stadt Pokrowsk in der Ostukraine deutlich gesteigert. Gleichzeitig wurde die Truppenpräsenz in diesem Frontabschnitt drastisch erhöht. Dem ukrainischen Generalstab zufolge sind allein dort 111.000 russische Soldaten stationiert.
Russlands Präsident Wladimir Putin scheint vom „Großen Sieg“ in der Ukraine überzeugt zu sein. Nun möchte er ihn auch einfahren und drängt daher auf eine Entscheidung, wie einige internationale Denkfabriken schon zu Jahresbeginn vermutet hatten. Auf dem Schlachtfeld hatte Russland bereits 2024 die Initiative übernommen und konnte stetige Geländegewinne erzielen.
„Zwar waren das keine bahnbrechenden Erfolge, aber zumindest eine Veränderung gegenüber den weitgehend statischen Frontlinien im Jahr 2023“, schrieb Analyst Mykola Bielieskov für den amerikanischen Thinktank Atlanic Council. Sollte die Ukraine diese russischen Fortschritte nicht aufhalten oder beheben können, so der bekannte ukrainische Strategieexperte, „dann könnte Putins Invasionsarmee in diesem Jahr einen entscheidenden Durchbruch erzielen“.
Russische Wirtschaft unter Druck
Mittlerweile kann Moskau wieder an die Geländegewinne des Vorjahrs anknüpfen. Experten schätzen, dass Russland allein im Juni mehr als 500 Quadratkilometer an ukrainischem Territorium erobert hat. Im Mai waren es nur etwa 170 Quadratkilometer.
Putin läuft die Zeit davon, er braucht sichtbare Erfolge in der Ukraine. Russland hat zunehmend Probleme, den Krieg zu finanzieren. Durch die permanent steigenden Ausgaben für die Armee und die Prämien für die Rekruten verschärft sich das Haushaltsdefizit.
Hinzu kommt die Belastung durch weitreichende Industriesubventionen bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen aus der Öl- und Gasproduktion. Die Wirtschaft ist angeschlagen. Der Leitzins liegt bei 20 Prozent, die Inflation steigt, was die Verbraucher gerade bei Grundnahrungsmitteln schmerzlich zu spüren bekommen.
Zudem hat die russische Rüstungsindustrie große Probleme, den Nachschub im geforderten Tempo herzustellen. Insbesondere bei der Neuproduktion von gepanzerten Fahrzeugen liegen die Zahlen weit unter der Zielvorgabe. Die Lücke wird nach wie vor aus alten Sowjet-Depots kompensiert. Doch auch diese Vorräte gehen langsam zur Neige, wie eine Analyse von Satellitenbildern gezeigt hat.
US-Präsident Donald Trump hatte bei seinem Amtsantritt im Januar einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine und Friedensverhandlungen versprochen. Sieben Monate später ist keine Feuerpause in Sicht.
Die dritte Runde der ukrainisch-russischen Gespräche vor wenigen Tagen in Istanbul brachte zwar einen Gefangenenaustausch, aber keinen Schritt in Richtung Frieden – weil Moskau nicht von seinen Maximalforderungen abweicht. Trumps „Freund“ im Kreml scheint sich geradezu ermutigt zu fühlen, die Ukraine mit nie gesehener Intensität anzugreifen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.
Washington hat bisher auf weitreichende Restriktionen verzichtet – obwohl Moskau gegen alle von Trump gesetzten Grenzen verstößt. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte erst am Mittwoch wieder betont, Russland werde all seine Ziele in der Ukraine erreichen.
„Damit meint er wahrscheinlich die ursprünglichen Kriegsziele Russlands, einschließlich des Regimewechsels in der Ukraine, der Änderung der Nato-Politik und der Reduzierung des ukrainischen Militärs“, analysierte das ISW in einem seiner täglichen Berichte. „Auf dass sich die Ukraine nicht mehr selbst verteidigen kann.“
Trump fühlt sich von Putin verschaukelt, wie der US-Präsident selbst zugab, doch Konsequenzen hatte dies bisher so gut wie keine. Das Weiße Haus gab zwar grünes Licht für mehr militärische Unterstützung der Ukraine durch die Nato-Staaten, hat aber selbst keine neuen Lieferungen beschlossen. Ein weiteres US-Sanktionspaket liegt seit Monaten auf Eis.
Mitte Juli verkündete Trump zwar eine Frist von 50 Tagen, in der Moskau sich für einen Waffenstillstand zu entscheiden habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich nach Ablauf des Ultimatums jedoch kaum etwas ändern. Trump hat bisher in keiner Weise demonstriert, dass er gewillt ist, seinen russischen Amtskollegen tatsächlich in die Schranken zu weisen.
Ortschaften an der Front werden eingekreist
Die europäischen Verbündeten der Ukraine haben hingegen neue Mittel bereitgestellt, um das angegriffene Land mit Luftabwehrsystemen gegen Drohnen und ballistische Raketen auszustatten. Die EU kündigte neue Sanktionen an, um alle verbleibenden russischen Energieimporte zu unterbinden. Außerdem wurde eine Verfünffachung des gemeinsamen Verteidigungshaushalts vorgeschlagen. Ein Umdenken in Moskau hat aber auch das nicht ausgelöst. Die russische Arme setzt weiter auf Offensive.
„Die russischen Streitkräfte haben eine Doktrin des Vormarsches entwickelt“, schreibt das ISW, „die darauf abzielt, langsam Ortschaften an der Frontlinie einzukreisen.“ Dies sei ein wiederkehrendes Muster der vergangenen sechs Monate, so die Experten der amerikanischen Denkfabrik. Insbesondere der ukrainische Festungsgürtel im Gebiet Donezk soll umgegangen werden.
Dazu zählt die Stadt Pokrowsk, die die russische Armee über Flanken im Westen und Osten einzukreisen versucht. Bisher ohne Erfolg. Militärexperten warnen jedoch, dass die ukrainische Armee die einst etwa 60.000 Einwohner große Stadt vielleicht schon im September räumen muss – vorausgesetzt, Kiew will eine blutige Verteidigungsschlacht wie in Bachmut vermeiden, das Russland erst nach zehntausenden getöteten Soldaten im Mai 2023 einnehmen konnte.
Pokrowsk ist ein wichtiger Straßen- und Eisenbahnknotenpunkt. Russische Medien bezeichnen den Ort als „Tor nach Donezk“. Eine Eroberung würde Moskau eine Plattform bieten, um nach Norden in Richtung der beiden größten noch ukrainisch kontrollierten Städte in der Oblast vorzustoßen: Kramatorsk und Slowjansk. Donezk zählt neben Cherson, Luhansk und Saporischschja zu den vier ukrainischen Regionen, die Putin im September 2022 per Dekret annektiert hatte.
Im Mai hatte der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyi noch versichert, man habe die seit Monaten andauernde Offensive des Feindes bei Pokrowsk zum Stillstand gebracht. Damals waren sogar einige Gebiete zurückerobert worden. Doch nun haben die russischen Truppen wieder die Oberhand.
Erst am Dienstag bestätigte das ukrainische Militär, dass kleinere russische Sabotageeinheiten in die Stadt eingedrungen sind. „Geolokalisierte Daten deuten zudem darauf hin, dass die russische Armee von Südwesten auf Pokrowsk vorrückt“, berichtete das ISW. „Die russische Militärführung bereitet in naher Zukunft weitere Angriffe vor.“ Mit der Eroberung von Pokrowsk würde Putins „Großer Sieg“ ein großes Stück näherrücken.
Alfred Hackensberger hat im Auftrag von WELT seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten berichtet; vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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