Als Emmanuel Macron das Schreiben Mitte Juni auf der Plattform X veröffentlichte, sprach der französische Präsident von einem „Brief der Hoffnung, des Mutes und der Klarheit“. Der Absender war Mahmud Abbas, Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Sein Brief signalisiere „konkrete, beispiellose Verpflichtungen“, so Macron, die eine „echte Bereitschaft zum Vorankommen“ bei der Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung demonstrieren.
Seit 20 Jahren steht der 89-jährige Abbas an der Spitze der PA. Abbas nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Islamisten der Terrororganisation Hamas anzuprangern, die 2007 die Macht in Gaza an sich gerissen und dabei auch PA-Männer von Dächern gestürzt haben. Im Mai beschimpfte Abbas die Hamas auf offener Bühne als „Hundesöhne“, als er sie zur Freilassung der israelischen Geiseln aufrief. Doch so scharf und direkt wie in dem Brief war sein Ton bislang selten.
Der PA-Chef verurteilte darin das Massaker vom 7. Oktober 2023 als „inakzeptabel und verwerflich“. Die israelischen Geiseln müsse die Hamas „unverzüglich“ freilassen. Wenn die Miliz „ein Teil des legitimen palästinensischen politischen Systems“ sein und an Wahlen teilnehmen wolle, müsse sie Gewalt und Terrorismus abschwören. „Das palästinensische Volk ist nicht dazu bestimmt, unter Besatzung zu leben. Ebenso wenig sind wir und die Israelis zum Krieg prädestiniert“, schrieb Abbas.
Auf den neuen Verpflichtungen der Palästinenser fußt Macrons Entscheidung, einen Staat Palästina in naher Zukunft anerkennen zu wollen. Lange galt es als undenkbar, dass westliche Staaten diesen Schritt gehen, bevor Israel mit den Palästinensern Frieden geschlossen hat und alle Fragen zu Sicherheit und Grenzen in Verhandlungen geklärt sind. Umso entschiedener fiel die israelische Ablehnung nach dem Massaker der Hamas aus – auch, weil sich daran nicht nur Hamas-Terroristen, sondern auch einige palästinensische Zivilisten beteiligt hatten. Dies erschütterte die Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz zutiefst – selbst bei jenen Israelis, die sich bis dahin für eine Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt hatten.
Die Initiative aus Paris, die mit dem saudischen Thronfolger Mohammed bin Salman abgestimmt und organisiert worden war, hat in den letzten Tagen gleichwohl an Dynamik gewonnen – und setzt Jerusalem unter Druck. Am Dienstag kündigte Großbritanniens Premierminister Keir Starmer an, sich dem Vorstoß anzuschließen, sollte der Krieg im Gaza-Streifen bis September nicht beendet sein. Auch Portugal erwägt inzwischen einen solchen Schritt, Spanien, Irland und Norwegen sind ihn bereits gegangen.
Berlin gibt sich deutlich zurückhaltender, fordert jedoch ebenfalls Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern. „Für Deutschland steht die Anerkennung eines palästinensischen Staates eher am Ende des Prozesses. Aber ein solcher Prozess muss jetzt beginnen“, sagte Außenminister Johann Wadephul (CDU) am Donnerstag vor seinem Abflug nach Israel.
Arabische Staaten fordern Entwaffnung der Hamas
Auf israelischer Seite ist es nicht nur Premierminister Benjamin Netanjahu, der die Gründung eines palästinensischen Staates ablehnt. Bereits vor dem Terrorüberfall vom 7. Oktober war ein solcher Schritt für Jerusalem kaum denkbar. Die grundsätzliche Ablehnung kam im Juli vergangenen Jahres zum Ausdruck, als die Knesset in einer Resolution bekundete, dass sie „die Gründung eines palästinensischen Staates westlich des Jordan entschieden ablehnt“.
Nur neun der 120 Parlamentsmitglieder stimmten gegen die Resolution, die einen solchen Staat für einen „Belohnung für Terrorismus“ hält und als „existenzielle Bedrohung für den Staat Israel“ bezeichnet. „Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die Hamas die Macht im palästinensischen Staat übernimmt und ihn in eine radikale islamistische Terrorbasis verwandelt“, heißt es in der nicht bindenden, aber symbolträchtigen Resolution.
Eine Sorge, die Israel nicht nur mit dem Westen teilt. Mehrere arabische Staaten, darunter Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, hatten bei einer UN-Konferenz in dieser Woche ein Ende der Hamas-Herrschaft im Gaza-Streifen gefordert. In einem siebenseitigen Dokument verlangte eine Gruppe von insgesamt 17 Ländern konkrete Schritte für ein Ende des Nahost-Konflikts.
So schwach wie noch nie, stünden die radikalen Islamisten heute an einem Scheideweg, schreibt der Nahost-Analyst Ehud Yaari in einem Fachbeitrag für die amerikanische Denkfabrik Washington Institute. Nach der Tötung zahlreicher hochrangiger Hamas-Kader im Gaza-Streifen und im Ausland seien zuvor marginalisierte Figuren an die Spitze gelangt. Diese stünden sich in zwei Fraktionen gegenüber und stritten um die künftige Strategie der Miliz, die dem israelischen Hamas-Kenner zufolge „keine einheitliche Organisation mit klarer Befehlskette mehr ist“.
Der israelische Journalist Yaari, der Kontakte zu höheren Leitungsebenen innerhalb der Hamas pflegt und somit Einblicke in interne Konflikte hat, berichtet, dass sich hinter verschlossenen Türen eine der beiden Hauptströmungen offen dafür zeigt, eine klare Niederlage im Krieg gegen Israel einzugestehen. Dieser Flügel versammelt sich um den früheren Hamas-Chef Chalid Maschal, der von den Planern des 7. Oktobers gezielt von den Entscheidungsprozessen rund um den Terrorangriff ausgeschlossen worden war.
Maschal wirbt dem Nahost-Experten zufolge für eine neue Strategie. Seiner Ansicht nach sollten die Islamisten das Scheitern ihrer ehemaligen Führung anerkennen und jetzt den Preis dafür zahlen, damit die Hamas künftig als politische Kraft weiter bestehen kann. Die Fraktion zeigt sich außerdem offen für eine Entwaffnung und eine Abkehr von wichtigen Verbündeten wie dem Iran und der libanesischen Terrormiliz Hisbollah. Stattdessen sucht sie den Schulterschluss mit arabischen Staaten, insbesondere den Golfmonarchien, sowie Ägypten und Syrien.
Unmut in der palästinensischen Bevölkerung
Laut Yaari sammelt sich die zweite Fraktion innerhalb der Terrororganisation um den zum Hamas-Chef aufgestiegenen Chalil al-Hayya. Dieses Lager sei weiterhin überzeugt, dass die Terrororganisation die „Geiselkarte“ ausspielen könne, um den vollständigen Rückzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen zu erreichen und die alleinige Kontrolle über die Palästinenser-Enklave aufrechtzuerhalten.
Die radikale Fraktion um Al-Hayya lehnt sowohl die Entwaffnung als auch die Zusammenarbeit mit der PA ab. Stattdessen setzt sie ihre Hoffnungen auf die Türkei, den Iran und Katar. Allerdings hatte sich auch das Emirat am Dienstag der Gruppe arabischer Staaten angeschlossen, die sich gegen die Hamas stellen. Und auch der Unmut der Bevölkerung in Gaza ist zuletzt gestiegen.
Wie groß er tatsächlich ist, lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Eine im Mai durchgeführte Umfrage des in Ramallah ansässigen Meinungsforschungsinstituts Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) zeigt aber, dass bis zu 48 Prozent der Bewohner des Küstenstreifens die jüngsten Demonstrationen unterstützen, bei denen die Hamas aufgefordert worden war, die Kontrolle über Gaza aufzugeben.
Die Umfragen des PSR zeigen jedoch auch: Zwar mag der Rückhalt für die Hamas im Gaza-Streifen wackeln, doch im von der PA verwalteten Westjordanland ist das anders. Dort unterstützten lediglich 14 Prozent der Befragten die Anti-Hamas-Proteste in Gaza.
Und auch die Hoffnung des Westens, dass eine Entwaffnung der Hamas von der Zivilbevölkerung getragen werden könnte, geben zumindest die Umfragen aus dem Mai nicht her: Deutliche 85 Prozent der Palästinenser im Westjordanland lehnten es damals ab, dass die Miliz im Gaza-Streifen ihre Waffen abgibt. In Gaza selbst waren 64 Prozent gegen eine Entwaffnung.
Der Widerspruch zwischen den Protesten gegen die Hamas einerseits und der weitgehenden Ablehnung ihrer Entwaffnung andererseits lässt sich auf Grundlage der verfügbaren Daten kaum auflösen. Klar ist lediglich: Eine Mehrheit der Befragten ist skeptisch, dass eine Entwaffnung der Hamas den gewünschten Effekt haben würde: Nur 17 Prozent glauben der Umfrage zufolge, dass der Gaza-Krieg enden und Israel sich zurückziehen würde, sollte die Hamas ihre Waffen tatsächlich niederlegen. In Gaza ist der Anteil immerhin fast dreimal so hoch wie im Westjordanland.
Sollte eine Einigung erzielt werden und der Krieg enden, befürworten 40 Prozent der Palästinenser eine Rückkehr der PA in den Gaza-Streifen. Im Westjordanland sind die Zustimmungswerte für die Behörde indes sehr gering: In den Augen vieler Menschen dort sind die alten, korrupten Führungsfiguren unfähig, grundlegende Sicherheit zu gewährleisten.
Hinzu kommt das Legitimationsproblem wegen der seit 2007 ausstehenden Wahlen. PA-Chef Abbas, der auch die säkulare Fatah-Fraktion innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) anführt, hat Macron versprochen, innerhalb eines Jahres Wahlen im Gaza-Streifen und im Westjordanland zu organisieren. Der PSR-Umfrage zufolge wollen vier von fünf Palästinensern, dass der Behördenchef, dessen verfassungsmäßige Amtszeit vor 16 Jahren endete, endlich sein Amt niederlegt.
Dass die PA ein verlässlicher und konstruktiver Partner sein kann, wird nicht nur innerhalb der palästinensischen Bevölkerung bezweifelt. Am Mittwoch verhängten die USA Sanktionen: Mitgliedern der PLO – der offiziellen Vertretung des palästinensischen Volkes – sowie Repräsentanten der PA soll künftig die Vergabe von US-Visa verweigert werden, wie das Außenministerium mitteilte. Den palästinensischen Organisationen werde unter anderem vorgeworfen, die Aussichten auf Frieden zu „untergraben“. Ins Detail ging das Ministerium nicht.
Klar ist jedoch: Will sich Macron bei seinem Vorstoß auf die PA verlassen, könnte er eine Enttäuschung erleben. Weder die Palästinenser selbst noch zentrale internationale Akteure trauen der Behörde derzeit zu, eine tragfähige Führungsrolle zu übernehmen. Und auch die Umfrageergebnisse aus dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland lassen Zweifel aufkommen. Ein friedliches Palästina – ohne die Hamas – scheint noch in weiter Ferne, solange die wechselseitigen Ängste und das grundlegende Misstrauen zwischen beiden Seiten ungelöst bleiben.
Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.
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