Den Bass spüren sie, die Stimme Lady Gagas hören sie, doch die vielen Regenbogenfahnen, die ihre Feindbilder tanzend durch Bautzen tragen, sind außer Sichtweite: „Wir kriegen euch alle!“, rufen rund 400 Neonazis durch die sächsische Kleinstadt dennoch an die Teilnehmer des Christopher Street Day (CSD) gerichtet. „Wir kriegen euch alle!“

Teenager mit Glatze stehen neben jungen Kameraden mit stramm gekämmtem Scheitel. „Ruhm und Ehre der Wehrmacht“ steht bei einem Jungen mit rundlich-kindlichem Gesicht auf der T-Shirt-Rückseite. „White Race Defender“, steht bei einem anderen vorne drauf, er trägt dazu eine Camouflage-Hose. Schwarz-weiß-rote Reichsflaggen wehen. „Nazikiez, Nazikiez!“, brüllen die Rechtsextremen. Und: „Weiß, normal und hetero!“

An diesem Sonntag protestieren die Neonazis gegen den dritten CSD in dem östlich von Landeshauptstadt Dresden gelegenen Örtchen. Im Vorjahr bekamen die damals gut 700 Rechtsextremen mit ihrer Demonstration bundesweite Aufmerksamkeit. Das Thema löste zwischenzeitlich Migrations- und Asylpolitik als zentrales Thema der extremen Rechten ab.

Bautzen wurde zum Symbol: Hier schafften es Neonazis besonders eindrücklich, mit ihren hasserfüllten Protesten gegen sexuelle Vielfalt ein Zeichen zu setzen. Gerade in sächsischen Städten mobilisierten sie zu großen Demonstrationen, die vielen CSDs kamen kaum ohne Gegenprotest aus. Berichte von Anfeindungen und Übergriffen nahmen zu, die Veranstaltungen fanden häufig mit Sicherheitskonzept sowie organisierter An- und Abreise statt.

Oftmals wurden jene Anti-CSD-Proteste von altbekannten Neonazi-Kadern und -Organisationen organisiert. Darunter etwa die NPD-Nachfolgepartei Die Heimat und deren Jugendorganisation Junge Nationalisten sowie die Kleinstparteien Der Dritte Weg oder die Freien Sachsen. Doch insbesondere die Präsenz neuer, junger und weniger stramm organisierter Nachwuchs-Neonazis fiel auf. Sie nennen sich „Jung & Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“. In Bautzen hat mit „Urbs Turrium“ eine solche Jugendgruppe eine Führungsrolle übernommen, „Mann und Frau – das wahre Fundament des Leben“ steht auf ihrem großen Transparent.

Laut einer Auswertung der Nichtregierungsorganisationen Cemas und Democ ist die etablierte rechtsextreme Szene im vergangenen Jahr von diesen jungen Akteuren überrascht worden, die „selbstbewusst bis zur Naivität, aktionsorientiert und gewaltbereit, aber ohne geschlossenes rechtsextremes Weltbild gegen die CSDs“ agitiert hätten. Mittlerweile habe ein „Schulterschluss“ zwischen diesen Jungen und Szene-Neonazis stattgefunden, die Eingliederung habe funktioniert. 2024 kam es vermehrt auch zu Gewalt; auch in diesem Jahr stellten „sporadisch auftretende Gewalt und die versuchten Einschüchterungen“ eine Bedrohung dar.

Vor der Straße nahm die Propaganda im Internet zu. So boten Chat-Apps wie Telegram oder WhatsApp eine niedrigschwellige Plattform zur Organisation; in sozialen Medien wurde mit dem „Stolzmonat“ auf den in der LGBTQ-Bewegung ausgerufenen „Pride Month“ reagiert, wie die Auswertung zeigt. Dabei wird sexuelle und geschlechtliche Vielfalt von Rechtsextremen als „Perversion“ bezeichnet, die eine vermeintlich natürliche Ordnung aus Heterosexualität und Familie zersetze.

Nicht zuletzt zeigt sich dabei ein tief verwurzelter Antisemitismus: Auf einem Protest-Aufruf gegen den CSD in Wittenberg im Juni etwa stand „Familie, Heimat & Nation statt CSD & Perversion“ – wobei die letzten beiden Worte an hebräische Schriftzeichen erinnerten. „Aus Anne wird Frank, das ist doch krank“, heißt es auf einem weitverbreiteten Motiv der Jungen Nationalisten, darunter schützt ein stilisiertes Paar seine Kinder mit einem Regenschirm vor einem Regenbogen. In Bautzen wird das Motiv als Aufkleber verschenkt, ein Ordner trägt es auf seinem T-Shirt zur Schau.

Auch die Sicherheitsbehörden sind alarmiert. So sei die LQBTQ-Community zunehmend Ziel von Anfeindungen geworden, teilte das Bundesinnenministerium von Alexander Dobrindt (CSU) im Vorfeld des Bautzener CSD auf WELT-Anfrage mit. Seit Juni 2024 stelle man neben der Online-Aktivitäten eine „vermehrt realweltliche und gewaltorientierte Fokussierung“ fest. Die Störaktionen gegen die CSDs hätten eine besorgniserregende Entwicklung genommen, rekrutieren sich laut Ministerium aus der „gewaltorientierten rechtsextremistischen Szene“. Die Entwicklung der Jugendgruppen sei dynamisch und stark digital beeinflusst, diese seien auf eine mittlere zweistellige Zahl angewachsen. Insgesamt geht das Bundesamt für Verfassungsschutz für 2024 von 15.300 gewaltorientierten Rechtsextremisten aus.

Der sächsische Verfassungsschutz beschreibt ebenfalls eine wachsende Gefahr: So sei das „verstärkte und selbstbewusste Auftreten zum Teil sehr junger, aktionsorientierter Rechtsextremisten“ festzustellen. Auf Anti-CSD-Protesten werde ein „Männlichkeitsbild, das Stereotype wie Stärke, Härte und Sportlichkeit betont“ als Gegenentwurf propagiert. Den Jungen attestiert der Verfassungsschutz ein „erhöhtes Maß an Aktivismus und Gewaltaffinität“.

In Bautzen wird aus dieser Gewaltbereitschaft kein Geheimnis gemacht.

Polizei trennt die beiden Lager streng voneinander

„Was machen wir mit den Zecken? Auf die Schnauze hauen!“, grölt die Menge immer wieder. Im vorderen Teil laufen vor allem junge Neonazis, die vom Kleidungsstil an die Springerstiefel-Jahre der 1990er erinnern. Neben solchen Stiefeln verbot die Versammlungsbehörde im Vorfeld auch das Tragen von Bomberjacken sowie eine Uniformierung. Dennoch laufen im hinteren Teil auch Junge-Nationalisten-Anhänger in Marsch-Formation, mit Flaggen und einheitlichem T-Shirt.

Vereinzelt beschimpfen Neonazis Journalisten, gehen Fotografen an. „Lügenpresse, auf die Fresse“, rufen sie. Die CSDs, so wird deutlich, bieten jungen Rechtsextremen die Möglichkeit, sich auszuprobieren. Nach den Erfahrungen bei CSDs im vergangenen Jahr setzt die Polizei diesmal auf ein scharfes Sicherheitskonzept. Parade und Gegendemonstration werden strikt getrennt, letztere läuft rund Hundert Meter hinter der Parade, getrennt von Polizeifahrzeugen und -ketten. Alkohol ist verboten, eine Uniformierung ebenfalls.

Die Teilnehmer des CSD lassen sich von den Rechtsradikalen offenkundig nicht beeindrucken. Dutzende Regenbogenflaggen wehen über dem Kornmarkt in der Bautzener Innenstadt. „Wenn du mich küsst, kommen unsere Freunde zurück aus Berlin“, singt Felix Brummer von der Rockband Kraftklub aus Chemnitz auf der Bühne.

Die Menge springt, junge Frauen halten ihre Beine ins kühle Brunnenwasser, Paare umarmen sich. „Wenn du mich küsst, dann ist die Welt ein bisschen weniger scheiße“, singt Brummer weiter. Die Sonne scheint, der Himmel ist fast wolkenlos.

Mehr als 3000 Menschen sind laut Polizei zur Parade gekommen, eine Antifa-Demonstration mit 450 Teilnehmern läuft zwischen Neonazis und CSD. Linke-Vorsitzende Ines Schwerdtner und Grüne-Landtagsabgeordnete sind zur Unterstützung da.

Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) beobachtet das Geschehen ebenfalls vor Ort. „Wir zeigen: Bautzen kann bunt, laut und solidarisch sein“, feiert sich das Organisationsteam. Man wolle „queeres Leben“ auch in ländlichen Regionen schützen und unterstützen. „Happy Pride wünsche ich euch!“, ruft Kraftklub-Sänger Kummer ins Mikrofon.

Ihren Verfolgern hat die Parade eine Nachricht hinterlassen: „Liebe ist für alle da“, steht mit Kreide auf den Asphalt geschrieben. Die Neonazis marschieren unbeeindruckt darüber.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.

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