Benedict Kurz, 23, gründete 2020 noch als Schüler gemeinsam mit drei Freunden den Lernbegleiter „Knowunity“. Eigenen Angaben zufolge wird die App mittlerweile von mehr als 21 Millionen Schülern in 17 Ländern genutzt und stellt mehr als 1,5 Millionen Lerninhalte zur Verfügung. Sie ist kostenfrei, mit Zusatzfunktionen in der Bezahlversion. Die Anwendung ist für die Klassenstufen fünf bis zwölf konzipiert. Eine Funktion besteht darin, die geteilten Mitschriften anderer Schüler nutzen und diesen „Lern-Influencern“ für weitere Inhalte folgen zu können.

WELT: Herr Kurz, was für eine Schulnote würden Sie dem deutschen Bildungssystem geben?

Benedict Kurz: Eine Drei bis Vier. Die Motivation eines Schülers, sich mit einem Thema zu beschäftigen, hängt wahnsinnig stark vom Lehrer und dem Format ab, durch das das Thema vermittelt wird. Das aktuelle System funktioniert aber nicht so, dass es den individuellen Bedürfnissen einzelner Schüler gerecht wird. Das kann es auch gar nicht, denn dafür gibt es schlicht zu wenig Lehrer.

Ein weiteres Problem ist die fehlende Offenheit Digitalem gegenüber. In den letzten Wochen wurde vielfach diskutiert, ob wir KI oder Smartphones aus Schulen verbannen sollen. Das ist – Grundschulen ausgenommen – wenig zielführend. Es ist naiv zu glauben, dass wir Digitales aus den Klassenzimmern raushalten könnten. Das wird nicht passieren. Es gibt noch viel zu viele Lehrkräfte, die ausschließlich mit alten Schulbüchern unterrichten, was stark auf Kosten von Motivation, aber auch Vorbereitung auf Karriere und Zukunft geht. Dabei ist Digitales schon seit Jahren ein Riesenthema.

WELT: Wie hat sich Lernen durch Digitales verändert?

Kurz: Durch die Entstehung des Internets hat sich Lernen wahrscheinlich weniger verändert, als viele gedacht haben. Die wirklich große Veränderung kommt jetzt gerade – oder ist sogar schon im Gange – durch KI. Wenn man die richtig nutzt, bedeutet das eine reale Möglichkeit für Chancengleichheit.

Das beinhaltet natürlich auch große Veränderungen: Hausaufgaben, die zu 90 Prozent von KI erledigt werden können, werden weniger sinnvoll. Prüfungen, die nur auf Auswendiglernen basieren, werden weniger sinnvoll. Dafür werden andere Kompetenzen wie Problemlösungen oder kritisches Denken wichtiger. Die Veränderungen, die durch KI kommen, sind riesig und werden Schulen und Schulträger dazu zwingen, umzudenken. Das ist deutlich größer als alles Digitale, was davor gekommen ist.

WELT: Von welchen konkreten Veränderungen sprechen Sie?

Kurz: Wir wissen, dass Schüler unterschiedlich lernen: manche lieber und besser mit Videos, andere mit Quizzen, ausführlichen Lernzetteln oder kurzen Erklärungen im Chat. Kein Schulbuch kann aber den Unterrichtsstoff für jeden Schüler in ein unterschiedliches Format bringen. KI kann das in Echtzeit: „Hier ist mein Text. Mach mir einen Podcast daraus. Warte, ich will doch lieber ein Video. Erstelle mir dazu passende Karteikarten.“ Das ist ein unfassbares Potenzial, das viele noch gar nicht sehen. „Hier ist mein Schulbuch. In dem steht ein super langer Text, den ich jetzt lesen muss“ – das hat noch nie viele Schüler motiviert und wird in Zukunft glücklicherweise immer seltener werden.

WELT: Wird das Lehrer auf lange Sicht überflüssig machen?

Kurz: Ich glaube nicht. Die meisten Schüler nutzen KI, weil sie eine Frage haben, auf die sie eine Antwort wollen. Die darüber hinaus gehende Aufgabe eines guten Lehrers ist es, den Schüler proaktiv zu leiten: „Hey, du hast gerade diese Aufgabe gemacht. Schau dir jetzt mal das hier an. Hier ist das nächste Thema.“ Das kann ein guter KI-Lernbegleiter zwar auch leisten, – Schule hat aber auch Aufgaben ganz abseits reiner Inhaltsvermittlung. Für alles rund um soziale Kompetenz braucht es Lehrer. Deswegen mache ich mir um diesen Beruf wenig Sorgen.

Ich kann mir aber vorstellen, dass sich Lehrer in Zukunft mehr auf die Schüler konzentrieren können, die verstärkt Hilfe brauchen – weil sie wissen, dass ein Großteil der Klasse durch personalisierte KI beschäftigt ist. Auch, dass gute Nachhilfe Kindern aus gut gestellten Haushalten vorbehalten ist, wird sich ändern. Aktuell ist das noch ein Problem, denn wenn ich gute Nachhilfe bekomme, verbessern sich meine Leistungen im Schnitt um ein bis zwei Noten. Wenn sie richtig genutzt wird, hat KI das wahrscheinlich größte Potenzial, für Chancengleichheit im Bildungssystem zu sorgen.

WELT: Hat die Nutzung von Digitalem im Unterricht ausschließlich Vorteile?

Kurz: Wie alles im Leben hat auch die Nutzung von Digitalem Risiken und Nachteile: Man muss aufpassen, was Schüler den ganzen Tag lang am Handy machen und was sie der KI für Fragen stellen – in der Schule genauso wie außerhalb. Im Unterricht kann man die Gelegenheit aber nutzen, um gleichzeitig breit angelegt auf Risiken hinzuweisen und zu informieren: Wofür nutze ich eine KI? Was sind sinnvolle Fragen und Prompts? Wie validiere ich Quellen? Wie weiß ich, ob eine Antwort, die von einer KI stammt, richtig oder falsch ist?

Die große Mehrheit der Schüler nutzt KI ohnehin schon. Da zeige ich ihnen doch lieber, wie genau das funktioniert und welche Risiken es dabei gibt, als dass ich KI verbiete und die Schüler sie allein nutzen, spätestens wenn sie das Schulgelände verlassen haben. Besonders bei Kindern und Jugendlichen wird durch ein Verbot im Zweifelsfall nur eine Trotzreaktion provoziert. Sie verbringen eh viel Zeit online. Da ist es doch besser, wenn sie dabei etwas für ihre Bildung tun, als stundenlang durch TikTok zu scrollen. Das hängt aber auch vom Alter ab: Mit sechs Jahren sollte kein Kind den ganzen Tag am Handy hängen, auch, wenn es zum Lernen ist.

WELT: Der Stand der Technik entwickelt sich rasend schnell, und viele Lehrer kennen sich damit viel weniger aus als ihre Schüler. Ist es ein realistisches Ziel, Digitales flächendeckend im Unterricht zu implementieren?

Kurz: Flächendeckend ist das in naher Zukunft wahrscheinlich nicht möglich. Die Nutzung kann aber auf jeden Fall flächendeckender sein, als sie es gerade ist. Man muss dafür mit gutem Beispiel vorangehen und das Thema positiv besetzen. Hoffentlich haben zumindest bald alle Schulen eigene iPads oder andere digitale Endgeräte. Man sollte denken, dass das schon seit Jahren der Fall ist.

Die Entkopplung zwischen alten Lehrern und jungen Schülern in Bezug auf Technik wird auch abnehmen, wenn mehr junge Lehrer nachkommen, die selbst „digital first“ aufgewachsen sind. Außerdem sehen wir, dass die Nutzungszahlen von ChatGPT auch bei den 50- bis 55-Jährigen teils ziemlich hoch sind – nicht so hoch wie bei den Schülern natürlich, aber ChatGPT kommt auch in den älteren Generationen an. Wir müssen den Lehrern mehr Hilfen an die Hand geben, statt nur zu fordern: „Hey, nutzt mal mehr Digitales.“ Mir ist klar, dass das schwer ist – und den wenigsten Lehrern den ganzen Tag über langweilig ist und sie nicht wissen, was sie mit ihrer freien Zeit tun sollen.

Uma Sostmann ist Volontärin bei WELT. Ihr Stammressort ist die Innenpolitik.

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