Eine junge Frau mit blondem Haar steht auf der Straße. Ihre Schultern umhüllt von einer Kufiya – jenem Tuch, das als Zeichen der Solidarität mit Palästina gilt. Die rechte Hand formt ein Peace-Zeichen, die linke hält ein Schild in die Höhe. Darauf zu sehen: das Porträt von Sahar Emami, der prominenten iranischen Nachrichtensprecherin des staatlichen Senders IRIB.
Die junge Demonstrantin bekundet während des israelisch-iranischen Krieges im Juni Solidarität – ausgerechnet mit einer Frau, die das Gesicht eines Senders ist, der systematisch Propaganda verbreitet und die Unterdrückung von Frauen legitimiert. Das Foto steht exemplarisch für ein Phänomen, das sich auf deutschen Straßen zeigt: die zunehmende Politisierung diasporischer Konflikte, das demonstrative Zurschaustellen ideologisch aufgeladener Symbole – und eine oftmals fehlende Reflexion über deren tatsächliche Bedeutung.
Auch Schilan Kurdpoor sieht das Bild – und ist fassungslos. „Wir müssen die Ursachen solcher Bilder hinterfragen: Warum solidarisieren sich Nicht-Betroffene mit islamistischen Strukturen, während Betroffene dagegen ankämpfen?“, fragt sie auf Instagram. Die kurdischstämmige Aktivistin entwickelt bundesweit Konzepte gegen Antisemitismus und demokratiefeindliche Ideologien – vor allem in muslimischen und türkisch-nationalistischen Milieus. Als freiberufliche Bildungsreferentin und politische Beraterin weiß sie, wie sich der Nahost-Konflikt in Deutschland entlädt – und warum gerade linke Kreise oft schweigen.
WELT: Frau Kurdpoor, was empfinden Sie, wenn islamistische Ideologien in linken oder feministischen Milieus in Deutschland relativiert oder gar legitimiert werden?
Schilan Kurdpoor: Das beunruhigt mich zutiefst. Wer einen Blick in die Geschichte wirft, erkennt: Es gab immer wieder ideologische Schnittmengen zwischen islamistischen und linken Milieus – besonders dann, wenn antiamerikanische oder antiisraelische Narrative im Spiel waren. Diese Überschneidungen sind kein Zufall – und ich halte das für hochgefährlich. Denn was in vielen Fällen fehlt, ist eine klare, konsequente Abgrenzung.
Dabei ist längst bekannt: Es gibt Akteure, die gezielt von islamistischen Regimen oder staatsnahen Medienstrukturen unterstützt werden – mit dem Ziel, diese Narrative in linken, akademischen Kreisen salonfähig zu machen. Und plötzlich lässt sich das kaum noch trennen: Es ist dieselbe Sprache, dieselbe Logik, dieselbe Argumentationsweise.
WELT: Sie sprechen von gefährlichen Schnittmengen. Warum fehlt aus Ihrer Sicht gerade in linken oder feministischen Kreisen häufig eine klare Abgrenzung gegenüber islamistischen Positionen?
Kurdpoor: Länder wie der Iran erscheinen vielen hierzulande weit weg – ihre Konflikte, ihre Unterdrückungsmechanismen sind oft nur abstrakt präsent und kaum greifbar. Wer selbst nicht betroffen ist, unterschätzt leicht, was diese Regime für Menschen bedeuten. Das wiederum führt zu grotesken Solidaritätsgesten.
Gleichzeitig beobachte ich eine grundsätzliche antisystemische Haltung: Man stellt sich automatisch auf die Seite jener, die sich gegen den Westen richten – unabhängig davon, ob diese tatsächlich für Freiheit und Demokratie einstehen. So entstehen paradoxe Allianzen. Man inszeniert sich als Verbündeter der Unterdrückten, ohne genau hinzusehen, wer in Wahrheit der Unterdrücker ist. Diese Form von Solidarität ist nicht nur widersprüchlich, sie lässt sich auch leicht politisch instrumentalisieren.
Was mich besonders enttäuscht: Aus diesen Kreisen ist selten klarer Widerspruch zu hören, kaum eine kritische Distanzierung. Von konservativen Parteien fordert man zu Recht eine deutliche Abgrenzung gegenüber rechten Rändern – etwa, wenn CDU-Politiker Positionen vertreten, die an die extreme Rechte erinnern. Die Empörung ist dann groß. Doch wenn es um islamistische Narrative geht, fehlt dieses Problembewusstsein nur allzu oft.
WELT: Ist das ein Resultat eines verkürzten Antiimperialismus?
Kurdpoor: Ganz eindeutig. In vielen linken oder akademischen Debatten fehlt ein entscheidender Aspekt: der Blick auf die imperialen Ambitionen islamistischer Regime – etwa im Iran oder in Teilen der arabischen Welt. Der heutige Antiimperialismus ist oft hochgradig selektiv: Er richtet sich fast ausschließlich gegen den Westen, während autoritäre Großmachtambitionen im Nahen Osten weitgehend ausgeblendet werden.
Die islamische Revolution 1978/79 im Iran hatte von Beginn an das Ziel, das Schiitentum global auszuweiten – insbesondere innerhalb in der islamischen Welt. Diese Strategie war keineswegs bloß religiös motiviert, sondern folgte klaren machtpolitischen Kalkülen. Der Iran inszenierte sich gezielt als Gegenpol zum arabischen Imperialismus und konnte sich vor allem im Libanon als Schutzmacht der Schiiten etablieren. Ruhollah Chomeini, der Gründungsvater der Islamischen Republik, wird dort mitunter wie ein Prophet verehrt – als eine Erlöserfigur, die gekommen sei, um das Schiitentum zu retten.
Iranische Führungspersonen äußern heute ganz offen, dass Länder wie der Libanon, Syrien, der Jemen oder Palästina „zum Iran gehören“. Völkerrechtlich ist diese Behauptung selbstverständlich unhaltbar. Doch ein Blick auf die Realität vor Ort zeigt: Durch den Einsatz von Proxys (bewaffnete Unterstützergruppen, Anm. d. Re.d), Milizen und ideologischen Netzwerken hat der Iran in diesen Staaten einen erheblichen Einfluss aufgebaut. Vor diesem Hintergrund wirkt die Machtrhetorik aus Teheran weniger absurd, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
WELT: Haben Sie mehr Beispiele?
Kurdpoor: Ja, Ähnliches gilt für die Türkei. Präsident Erdogan macht keinen Hehl daraus, dass er vom Osmanischen Reich träumt. Er versucht, die arabische und kurdische Welt gezielt für sich zu gewinnen – und setzt dabei ganz bewusst auf den politischen Islam. Islamismus ist für ihn ein Werkzeug zur Machterweiterung. Die Besetzung kurdischer Gebiete wie Afrin im Nordwesten Syriens seit 2018 ist längst Realität.
Doch gerade in Europa – insbesondere in linken Diskursen – fehlt oft jedes Bewusstsein für diesen spezifischen Imperialismus. Es gibt kaum eine Auseinandersetzung mit der imperialen Ideologie. Stattdessen wird jede Kritik daran schnell als „rassistisch“ oder „islamophob“ abgetan. Diese analytische Leerstelle ist gefährlich. Denn sie verhindert eine ehrliche Auseinandersetzung mit der realen Bedrohung, die von autoritären, islamistisch geprägten Regimen ausgeht – und damit auch eine klare Positionierung im Sinne echter Solidarität gegenüber denjenigen, die unter deren Herrschaft leiden.
„Wer heute schweigt, wird morgen selbst betroffen sein“
WELT: Mitte Juli versammelten sich rund 300 bis 400 Anhänger des syrischen Machthabers Ahmed al-Scharaa vor dem Roten Rathaus in Berlin. Sie skandierten Hassparolen gegen Israel, Drusen und Alawiten – darunter auch offene Aufrufe zu Mord und Vergewaltigung. Wie bewerten Sie es, dass extremistische Gruppen in deutschen Innenstädten zunehmend ungehindert auftreten, zu Gewalt aufrufen und gezielt religiöse Minderheiten bedrohen – ohne nennenswerte Konsequenzen?
Kurdpoor: Dass sich diese Konflikte auf deutschen Straßen widerspiegeln, überrascht mich nicht. Deutschland verharrt in einer gefährlichen Passivität – und verkennt dabei seine Verantwortung. Dabei geht es nicht darum, den Islam zu verteufeln. Ich selbst stamme aus einer sunnitisch-islamischen Familie, in der Religion etwas Spirituelles und Privates war – niemand hat dem anderen etwas übergestülpt. Ich würde das als liberal-muslimisch bezeichnen. Doch was wir heute sehen, ist keine Spiritualität mehr, sondern 100 Prozent politischer Islam.
Ich habe ein Video gesehen, in dem ein Vater seinem kleinen Sohn erklärt, wie er sich gegenüber Drusen oder Kurden verhalten soll. Der Junge tritt daraufhin mit voller Wucht auf den Boden – als Symbol der Erniedrigung. Wenn menschenfeindliche Ideologien bereits im Kindesalter vermittelt werden, dann ist das ein Weckruf. Wie können wir als Gesellschaft dabei tatenlos zusehen? Es geht längst nicht mehr nur um migrantische Milieus unter sich. Wer heute schweigt, wird morgen selbst betroffen sein. Erst wenn es zu spät ist, handelt der deutsche Staat – und dann oft auch noch falsch.
WELT: Was genau meinen Sie damit? Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Kurdpoor: Es zeigt, dass Deutschland die falschen Prioritäten setzt. Unsere Asylpolitik trifft oft diejenigen, die tatsächlich Schutz brauchen – und duldet gleichzeitig Strukturen, die eine ernsthafte Gefahr darstellen. So wurde etwa eine jesidische Familie, die vor Islamisten geflohen war, abgeschoben. Währenddessen entstehen neue Ditib-Moscheen – obwohl längst bekannt ist, dass Erdogan diese Einrichtungen gezielt für Propaganda und politische Einflussnahme nutzt.
Doch genau das will man offenbar nicht wahrhaben. Ich habe im Bundestag mehrfach auf diesen Missstand hingewiesen. Die Antwort darauf war meistens: „Schwierig. Nato-Partner.“ Aus Angst, es sich mit der Türkei zu verscherzen. Aber genau hier liegt das eigentliche Problem. Diese politische Reaktivität wird uns langfristig teuer zu stehen kommen.
Wie Radikalisierung junger Muslime funktioniert
WELT: Warum greifen gerade junge Menschen mit Migrationserfahrung auf autoritäre Identitätsangebote zurück?
Kurdpoor: Früher war die Tagesschau um 20 Uhr das Fenster zur Welt. Heute sind es Social-Media-Plattformen wie TikTok, Instagram und Co. Junge Menschen werden mit emotional aufgeladenen Inhalten überflutet – und geraten schnell in den Einflussbereich sogenannter Hobby-Politiker, die gezielt Propaganda verbreiten und Verschwörungsnarrative verstärken. Extremistische Akteure bedienen sich einer einfachen Sprache, klarer Feindbilder und ideologischer Radikalität – das trifft besonders Jugendliche in ihrer Phase der Identitätsfindung.
Hinzu kommt: Viele junge Menschen erleben tatsächlich Rassismus in Deutschland. Wenn dann deutsche Politiker von „kleinen Paschas“ sprechen, bedienen sie genau jene Narrative, die Extremisten für ihre Rekrutierung nutzen. Extremisten sagen: „Du wirst hier nie dazugehören. Also sei ein richtiger Türke, kein halber Deutscher.“ Das bedeutet im Kern: Kehrt der demokratischen Gesellschaft den Rücken. Das wiederum führt zu einer gefährlichen Entfremdung – weg von der offenen Gesellschaft, hin zu autoritären Identitätsangeboten.
Wir sprechen hier von Push- und Pull-Faktoren: Einerseits drängt gesellschaftliche Ausgrenzung und Rassismuserfahrung junge Menschen weg (Push), andererseits holen Extremisten sie gezielt ab (Pull) – mit Identitätsangeboten, die emotional und ideologisch vereinnahmen. Es braucht endlich eine klare Haltung gegenüber den islamistischen Strukturen, die sich hier etabliert haben.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.