Kaum ein Diplomat hat Deutschland länger beobachtet, als Taiwans Botschafter in Berlin, Jhy-Wey Shieh. Der 70-jährige studierte Germanist trat im August 2016 seinen Dienst als Repräsentant des demokratischen Inselstaats in Deutschland an. Bevor er diese Woche nach exakt neun Jahren seinen Posten verlässt, sprach er mit WELT über seine Sicht auf das Land.
WELT: Herr Botschafter, nach fast einem Jahrzehnt verlassen Sie Deutschland. Sie kamen im Sommer 2016 nach Berlin und haben seitdem erlebt, wie das Land drei großen Krisen ausgesetzt war: der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie und der auf den Ukraine-Krieg folgende Energiekrise. Wie hat sich Deutschland geschlagen?
Jhy-Wey Shieh: Deutschland hatte Pech, denn gerade als man an der Überwindung der Flüchtlingskrise gearbeitet hat, brach die Corona-Pandemie über das Land herein. Und als man diese überstanden hat, forderte Putins Invasionskrieg gegen die Ukraine das Land erneut. Man könnte meinen, Deutschland als ein großes, wohlhabendes Land hätte mit drei Krisen fertig werden können. Die Bemühungen um eine akzeptable Lösung haben sich aber als wesentlich komplizierter herausgestellt als erwartet.
WELT: Ein Jahr bevor Sie ihr Amt angetreten haben, sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Bezug auf die Flüchtlingskrise „Wir schaffen das“. Friedrich Merz sagte neulich, wir hätten es nicht geschafft. Was ist Ihr Fazit?
Shieh: Die einen würden sagen, man habe es geschafft, die anderen würden sagen, man habe es nicht geschafft. Ich würde sagen, man ist geschafft. Dennoch verdient Deutschland, dafür respektiert und bewundert zu werden. Es hat aus einer historischen Verantwortung ein Schutzbewusstsein für viele leidende Menschen entwickelt und seine Grenzen geöffnet. Das war eine großartige Geste. Im Nachhinein muss man aber feststellen, dass die Deutschen darauf nicht richtig vorbereitet waren. Das hat dann etliche Probleme geschaffen, die das Land bis heute beschäftigen.
WELT: Auch die zweite Krise, die Sie erlebt haben, die Corona-Pandemie, hat das Land stark gefordert.
Shieh: Leider ja. Anders als in Taiwan, wo wir nie einen Lockdown hatten, begann man zu spät, das Virus ernst zu nehmen. Das fing damit an, dass man zu lange chinesische Reisende hineingelassen hat und hörte auf bei der anfänglichen Skepsis gegenüber Masken. Insgesamt haben beide Krisen das Land sehr polarisiert.
WELT: Das stimmt. Die Folgen sind nun bis in den politischen Alltag spürbar. Ist das die neue Realität, oder trauen Sie den Deutschen zu, die Spaltung zu überwinden?
Shieh: Ich glaube, die deutsche Gesellschaft ist an einem Punkt, an dem sie beginnt, zu reflektieren. Wir sehen, dass die neue Regierung die Flüchtlingspolitik korrigiert. Sie war der Auslöser der starken Polarisierung und Radikalisierung einiger Menschen, die durch Corona und schließlich die Frage, wie man zu Russland steht, verstärkt wurde.
WELT: Der russische Krieg gegen die Ukraine ist die dritte Krise, in der Sie Deutschland erlebt haben. Die Reaktion darauf, insbesondere mit Blick auf die westliche Unterstützung, dürften Sie besonders aufmerksam verfolgt haben. Taiwan ist auch ein kleines Land, das von seinem großen imperialistischen Nachbarn bedroht wird.
Shieh: Deutschland hat richtig reagiert und sich mit den anderen europäischen Nationen zusammengeschlossen. Das begann bei der Waffenhilfe aber war jüngst Anfang der Woche in Washington sichtbar, als fünf europäische Staats- und Regierungschef zur Unterstützung von Selenskyj ins Weiße Haus reisten.
WELT: In unserem letzten Interview im Juni 2022 habe ich Sie gefragt, ob Sie im Fall eines Angriffs Chinas mit Waffenunterstützung aus Deutschland rechnen würden. Sie sagten damals nein. Ihre Begründung lautete: „Wer keine Erwartungen hat, kann auch nicht enttäuscht werden. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von China ist zu groß.“ Hat sich das geändert?
Shieh: Ja. Damals war die Beziehung zwischen Taiwan und Deutschland eine Verbindung zwischen zwei Demokratien. Heute ist sie vielschichtiger. Ein Jahr nach unserem Gespräch reiste die damalige Außenministerin Annalena Baerbock nach China und warnte Peking vor einer Eskalation in der Taiwan-Straße. Damit hat sie klargemacht, dass Deutschlands Interessen bei einem Angriff verletzt würden. 70 Prozent des globalen Halbleiterbedarfs werden aus Taiwan gedeckt, jedes zweite Containerschiff passiert die Taiwan-Straße. Dieses Bewusstsein wird auch in der Bevölkerung immer stärker. China weiß nun, dass es deutsche Interessen verletzen würde, sollte es uns angreifen.
WELT: Viele deutsche Firmen wollen von „de-risking“ trotzdem immer noch nichts wissen…
Shieh: Das von der Ampel-Regierung mit eingesetzte Motto, China als „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ zu behandeln, signalisierte den Anfang. Natürlich sind weiterhin Abhängigkeiten da und die lassen sich möglicherweise nicht von heute auf morgen beseitigen, aber entscheidend ist, dass es nicht noch schlimmer wird mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Und da bin ich zuversichtlich. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht China mittlerweile wesentlich kritischer als noch vor fünf oder sieben Jahren. Das hat sich Peking selbst zuzuschreiben. Ereignisse, wie die Unterwerfung Hongkongs oder die autoritäre Covid-Politik hat jedem gezeigt, wie gefährlich das Regime ist. Von Unterstützungen für Putin brauchen wir ja gar nicht erst zu reden.
WELT: Hat Friedrich Merz ein kritisches China-Bild?
Shieh: Ich habe vor ungefähr anderthalb Jahren mit ihm zusammengesessen und ihm unsere Lage erklärt. Damals war er CDU-Chef und Oppositionsführer. Er war sich dessen bewusst, dass China eine Bedrohung ist, und das nicht nur für Taiwan. Das habe ich gespürt. Er weiß, dass Deutschland zwar mit Peking Geschäfte machen muss, das aber nicht mehr bedenkenlos geht.
WELT: Ist Deutschland heute ein besserer Freund Taiwans als vor neun Jahren?
Shieh: Ja, das auf jeden Fall. Ich würde aber nicht von einem „besseren“ Freund sprechen. Ich wäre sonst ein undankbarer Mensch. Denn Deutschland hat im Vergleich mit vielen anderen Ländern in unzähligen Angelegenheiten Taiwan nach Möglichkeit unterstützt. Von ganzem Herzen danke ich diesem Land, das quasi meine zweite Heimat geworden ist. Dennoch kann ich mir an dieser Stelle den Wunsch nicht verkneifen, dass sich bald noch die Erkenntnis durchsetzt, dass man Taiwan mit der Ein-China-Politik lange unrecht getan und sich selbst geschadet hat.
WELT: Nicht nur Deutschland hat viele Krisen erlebt. Auch die Welt hat sich verändert hin zu einer multipolaren Ordnung, in der selbst das transatlantische Bündnis nicht mehr das ist, was es mal war. Kann sich Deutschland in so einer Welt behaupten?
Shieh: Ein chinesischer Stratege namens Sunzi, der chinesische Clausewitz, sagte einst, der Mensch vermag sich nur einen Weg aus der Krise zu bahnen, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht und glaubt zu sterben. Deutschland steht mit dem Rücken zur Wand – und das führt zu einer Bereitschaft, sich neu aufzustellen und geopolitischer zu denken, als noch wenige Jahre zuvor.
WELT: Spricht dagegen nicht, dass die Ampel-Koalitionäre unmittelbar nach der Wahl von Donald Trump die Regierung haben platzen lassen oder dass die Abgeordneten von Union und SPD im Frühjahr ihren Kanzler im ersten Wahlgang durchfallen ließen? Zeugt das nicht von völliger Ignoranz gegenüber der Weltlage?
Shieh: Ich glaube, in beiden Fällen haben die deutschen Politiker selbst einen Schock erlitten. Der Bruch der Ampel-Regierung kurz nach der Wahl von Trump war von außen gesehen schon ein Hammer und bei der Wahl von Merz haben wohl einzelne nicht überblickt, was sie mit ihrer Stimme anrichten würden.
WELT: Ist Deutschland noch ein Stabilitätsanker?
Shieh: Als Diplomat würde ich nicht nein sagen. Deutschland galt immer als stabil, aber das lag vielleicht daran, dass es lange nicht so große Herausforderungen gab. Das Wichtigste ist aber, – hoffentlich hört es sich nicht arrogant an – ich halte Deutschland glücklicherweise für lernfähig.
Gregor Schwung berichtet seit 2025 als außenpolitischer Korrespondent über transatlantische Beziehungen, internationale Entwicklungen und geopolitische Umbrüche mit einem besonderen Schwerpunkt auf die Ukraine und die USA.
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