Guy Verhofstadt war von 1999 bis 2008 Premierminister Belgiens. Anschließend leitete er zehn Jahre lang die liberale Fraktion (ALDE) im Europäischen Parlament. Sein Mandat legte er 2024 nieder. Am heutigen Samstag nimmt Verhofstadt an einer Kundgebung der iranischen Exilopposition in Brüssel teil. Nach den Angriffen Israels und der USA auf das iranische Atomprogramm hat Teheran Auskünfte über den Verbleib von seinem angereichertem Iran verweigert. Nun könnten wieder internationale Sanktionen in Kraft getreten, die im Rahmen des Atomabkommens von 2015 ausgesetzt waren.

WELT: Herr Verhofstadt, die sogenannten E3-Länder Deutschland, Großbritannien und Frankreich streben eine Wiedereinführung der ausgesetzten UN-Sanktionen gegen Iran an. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Guy Verhofstadt: Diese Entwicklung belegt, dass die alte Politik der Beschwichtigung, die darauf abzielte, ein Abkommen mit den Mullahs zu verhandeln, gescheitert ist. Diese Strategie hat in den vergangenen Jahren weder den Menschen im Iran geholfen, noch hat sie die nukleare Bedrohung eingedämmt, noch hat sie zur Stabilität der Region beigetragen. Wenn einige Menschen heute sagen: „Lasst uns wiederholen, was wir damals getan haben“, dann ist das aus meiner Sicht nicht der richtige Weg.

WELT: In den 2000er-Jahren galten die Europäer noch als Vermittler im Atomstreit. Als belgischer Premierminister haben Sie damals die EU-Linie mitgetragen. Heute plädieren Sie hingegen für einen deutlich härteren Kurs gegenüber Teheran. Welche Gründe führten zu dieser Veränderung?

Verhofstadt: Nicht nur ich, sondern nahezu das gesamte Europäische Parlament hat in den vergangenen Jahren Resolutionen verabschiedet, die die Iran-Politik der EU kritisieren. Ich denke, die Lage hat sich in den vergangenen zehn Jahren eindeutig verändert – und zwar in drei Punkten. Erstens hat sich die Situation für die Menschen im Iran dramatisch verschlechtert: Die Zahl der Hinrichtungen steigt, statt zurückzugehen, und ein Großteil der Opfer sind Menschen aus der demokratischen Opposition oder Widerstandskämpfer. Zweitens ist der Iran in den vergangenen zehn Jahren immer stärker zu einem destabilisierenden Faktor in der Region geworden. Durch die kontinuierliche Finanzierung der Hamas, der Huthi, der Hisbollah und anderer Stellvertreter. Drittens erfüllt der Iran nicht einmal die Verpflichtungen aus dem vor zehn Jahren geschlossenen Abkommen. Laut UN ist das Land inzwischen sehr nah an einem Anreicherungsgrad von Uran, der für den Bau von Atomwaffen nutzbar wäre.

WELT: Welche Vorgehensweise wäre dann aus Ihrer Sicht sinnvoller?

Verhofstadt: Ich glaube, Krieg ist auch keine Lösung für dieses Problem. Die entscheidende Frage ist, welche Strategie, die weder auf Beschwichtigung setzt noch zu einem Krieg führt, realistisch ist. Genau diese Frage müssen sich westliche, insbesondere europäische, Entscheidungsträger stellen. Doch offenbar fällt es vielen Diplomaten schwer, sich von früheren Vorstellungen zu lösen, zumal sie weiterhin glauben, mit Beschwichtigung der Mullahs ließe sich etwas erreichen, obwohl die Ergebnisse der letzten 15 Jahre das Gegenteil zeigen.

WELT: Kritiker einer harten Linie argumentieren, dass ein verstärkter Druck das Verhalten des iranischen Regimes nicht wie erwünscht verändern werde. Wahrscheinlich würde der Iran sein Atomwaffenprogramm nicht aufgeben, sondern es sogar noch beschleunigen. Halten Sie das für plausibel?

Verhofstadt: Ich glaube nicht, dass dieses Argument trägt. Zumal es nicht das Ziel sein kann, das Verhalten des Regimes zu verändern – die Mullahs werden morgen dieselben sein wie heute. Sie werden sich nicht ändern. Entscheidend ist vielmehr, den Menschen im Iran zu helfen. Sie selbst werden entscheiden, wann, wie und mit welchen Mitteln sie ihr Schicksal in die Hand nehmen.

WELT: Skeptiker wenden dazu ein, dass eine Politik, die offen auf einen Regimewechsel abzielt, den gesamten Nahen Osten destabilisieren könnte – mit Folgen wie kriegerischen Konflikten, zunehmendem Terrorismus und neuen Fluchtbewegungen, von denen letztlich auch Europa betroffen wäre.

Verhofstadt: Der destabilisierende Faktor ist das gegenwärtige Regime selbst. Das sehen wir am Beispiel der Hamas, der Hisbollah, der Huthi und anderer von Teheran unterstützten Stellvertreter. Doch die Destabilisierung beschränkt sich nicht nur auf den Nahen Osten: Der Iran liefert Russland Waffen und ermöglicht so dessen anhaltende Bombardierungen in der Ukraine. Ohne diese Unterstützung wäre eine derart intensive Kampagne kaum denkbar.

Wenn also jemand fragt, ob eine neue Strategie Instabilität schaffen würde, dann ist die Antwort: Die Instabilität ist längst da, und zwar seit zwei Jahrzehnten. Der Syrien-Krieg etwa war im Kern ebenfalls ein von Teheran befeuerter Stellvertreterkonflikt. Als die demokratische Opposition drohte, das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad zu stürzen, rief der Iran Russland zu Hilfe. All das zeigt: Nicht ein Regimewechsel wäre die Ursache von Instabilität, sondern das Fortbestehen des aktuellen Regimes selbst. Ein Ende dieser Herrschaft würde im Gegenteil dabei helfen, die Region zu stabilisieren.

WELT: Sie plädieren für eine engere Zusammenarbeit mit der demokratischen Opposition im Iran. Was fordern Sie konkret?

Verhofstadt: Politisch bedeutet das vor allem, die demokratische Opposition als die eigentlichen Vertreter des iranischen Volkes anzuerkennen. Diese Opposition ist vielfältig – nicht nur innerhalb des Iran, sondern auch in der großen Diaspora von Millionen Iranern im Ausland. Unsere Aufgabe ist es, diese Opposition zu stärken, indem wir nicht länger nachsichtig mit dem Regime umgehen, sondern konsequent handeln. Das bedeutet etwa, echte Sanktionen zu verhängen und die Revolutionsgarde auf die Terrorliste zu setzen. Im Fall Belarus verfahren wir übrigens ganz ähnlich. Wir müssen gemeinsam mit dieser Opposition einen echten Dialog eröffnen und mit ihr über die Zukunft des Landes nachdenken. Genau das geschieht bislang nicht. Unsere Diplomaten und viele Politiker erwecken stattdessen den Eindruck, es gebe keine Alternative und man müsse mit den Mullahs leben. Wenn man jedoch einen Dialog mit der demokratischen Opposition eröffnet, sendet man ein anderes Signal: Es gibt sehr wohl eine Perspektive nach dem Regime der Mullahs. Dieses Signal fehlt heute völlig.

WELT: Was bleibt aus Ihrer Ansicht das größte Risiko für die regionale Stabilität?

Verhofstadt: In einem Kampf um Demokratie in einem Land wie dem Iran geht es ganz wesentlich darum, klar Position zu beziehen. Wenn der Westen ständig von Demokratie spricht, in Wirklichkeit aber eine Politik der Beschwichtigung gegenüber einem Regime verfolgt, das das Gegenteil verkörpert, dann ist das zutiefst entmutigend für jene, die dort im Iran für Freiheit kämpfen. Das ist das Problem des Westens seit 25 Jahren. Wir haben schöne Prinzipien und Werte, aber wenn es darum geht, sie konsequent durchzusetzen, scheuen wir oft davor zurück. Genau das führt dazu, dass die Prinzipien der liberalen Demokratie, die wir im Westen so gerne verteidigen, weltweit unter Druck geraten. Wir waren sehr gut darin, die destabilisierende Rolle bestimmter Akteure nicht sehen zu wollen – sei es der Iran oder früher auch Russland. Wir glaubten lieber, wenn wir wegschauten, würden die Probleme verschwinden.

Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.

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