Polen hat in der Nacht insgesamt 19 Verletzungen seines Luftraums festgestellt. Ministerpräsident Donald Tusk sagte am Mittwoch, das EU- und Nato-Land habe daraufhin mindestens drei russische Drohnen abgeschossen.
Nun hat das Land bei der Nato Konsultationen nach Artikel 4 des Bündnisvertrags beantragt. Roderich Kiesewetter, Außenexperte der Union sowie Bundeswehroberst a. D., hat im Gespräch mit Reporter Max Hermes von WELT TV die aktuelle Lage eingeordnet.
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WELT: Nach dem Abschuss von mehreren Drohnen aus Russland hat Polen Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrages beantragt. Jetzt sagt Kaja Kallas, die EU-Außenbeauftragte, dass es Hinweise für eine absichtliche Verletzung des polnischen Luftraums durch Russland gibt. Wie muss Europa auf eine solche Verletzung reagieren?
Roderich Kiesewetter: Wir müssen das einordnen. In den nächsten Tagen beginnt Russland mit der Großübung „Zapad 25“ – also „Westen 25“. Die findet alle paar Jahre statt. Im Vorfeld ging es Russland wohl darum, zu erkennen, wie westliche Staaten bei Luftraumverletzungen reagieren und wo sich die Luftverteidigungseinrichtungen befinden. Nun sind für relativ unbedeutende Drohnen, die da den Luftraum verletzt haben, gleich Kampfflugzeuge vom Typ F-35 und F-22 aufgestiegen. Damit testet Russland uns aus. Es ist eine neue Form der Eskalation.
Die Reaktion von Polen war sehr besonnen: Kabinettssitzung, Alarmierungen, der Bevölkerung gesagt, wie sie sich verhalten sollen, den Heimatschutz aktiviert. Polen hat sehr professionell gehandelt. Nur: Für Russland ist erkennbar, dass wir mit Kanonen gegen diese Spatzen antreten. Das heißt: Wir brauchen eine andere Luftverteidigung. Ein weiterer Ansatz wäre, die Westukraine mit einer Flugverbotszone oder einer integrierten Luftverteidigung besser zu schützen, um solche Angriffe schon im Vorfeld abwehren zu können.
WELT: Sollte sich jetzt das bestätigen, was die EU-Außenbeauftragte erwähnt hat – würde dadurch die Bündnisverteidigung eintreten nach Artikel 5?
Kiesewetter: Die Nato wird auf Bitten von Polen heute zusammenkommen und den Artikel 4 beraten – das sind Konsultationen bei einer Eskalation. Ich will anders antworten: Eine Nichtreaktion, eine Ableugnung, eine Beschwichtigung wäre auch ein Beitrag zur Eskalation, indem Russland nämlich sieht, wie weit sie gehen können. Und sie werden immer noch einen Schritt weitergehen.
Der frühere litauische Außenminister Linkevičius hat sehr klargemacht, dass dies zum Arsenal des KGB, aber auch des alten Russlands gehört: ständig auszutesten – was meins ist, ist meins, was deins ist, wird verhandelt. In diesem Fall heißt das zu schauen, wie die westlichen Staaten reagieren. Und wenn sie aus russischer Sicht nicht mit Diplomatie und Härte antworten, dann gehen sie weiter. Das heißt: Wir müssen dieser weiteren Eskalation vorbeugen.
WELT: Sie haben auch schon angesprochen, wie man der Ukraine möglicherweise helfen kann und immer wieder die Lieferung von Marschflugkörper Taurus gefordert. Bislang konnte man sich in der Koalition nicht dazu durchringen. Halten Sie eine solch weitreichende Waffenlieferung mit der SPD überhaupt für möglich?
Kiesewetter: Das muss die SPD entscheiden. Aber es gibt in der SPD auch Stimmen, die andere Vorschläge machen – beispielsweise, der Ukraine endlich das russische Vermögen, über 230 Milliarden Euro, die in Europa eingefroren sind, zur Verfügung zu stellen. Ein anderer Vorschlag sieht vor, die Luftverteidigung über der Westukraine zu übernehmen: vom Boden aus, außerhalb der Ukraine, sodass man eine Flugverbotszone einrichtet oder aber russische unbemannte Flugzeuge abschießen kann. Das ist ein estnischer Vorschlag.
Der andere Aspekt ist natürlich, dass die Taurus-Lieferung die Ukraine befähigen, die Ausgangsstellungen für solche Angriffe in Russland zu zerstören. Das fordere nicht nur ich schon lange, sondern auch Teile der FDP, den Grünen – und früher aus der Union. Hier ist es schon wichtig, dass Deutschland glaubwürdig sein will. Wer eine Führungsrolle will, muss auch sehr klar wissen, worum es geht: um Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung in Europa – und um ein Austesten durch Russland. Und Russland antwortet nur auf Härte.
Ein Beispiel: 2015 kam es zum Abschuss eines russischen Flugzeuges über der Türkei durch die Türkei. Danach hat Russland nie mehr den Luftraum über der Türkei verletzt. Ich will nur Beispiele nennen, dass Russland auf Härte sich auch zurückzieht oder angemessener reagiert, als wenn wir nichts tun würden.
WELT: Der Bundeskanzler redet nicht gerne darüber, aber Sie haben Taurus eben immer wieder gefordert. Wie wichtig wäre gerade jetzt dieses Waffensystem für die Ukraine?
Kiesewetter: Nun, es war sehr wichtig vor zwei, drei Jahren, weil wir da viel schneller größere Wirkung hätten erzielen können. Allein schon die Taurus-Ausbildung zu beginnen, wäre ein hervorragendes politisches Signal an Russland, wie ernst wir unsere eigene Sicherheit nehmen. Liefern kann man dann immer noch.
Dieses Transkript des Interviews bei WELT TV entstand mithilfe Künstlicher Intelligenz. Für bessere Lesbarkeit wurde das gesprochene Wort leicht redaktionell bearbeitet.
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