Im vierten Stock des Hans-Sachs-Hauses in Gelsenkirchen liegen die Türen dicht nebeneinander. Hinter der einen drängen sich rund 100 Christdemokraten, die Luft ist stickig, die Stimmung angespannt. Hinter der anderen sitzen fünf AfD-Fraktionsmitglieder an einem langen Tisch – umringt von Journalisten mit Kameras und Notizblöcken.

Vor den Mikrofonen sitzen Norbert Emmerich (72), Bankkaufmann und AfD-Kandidat für das Oberbürgermeisteramt, und Enxhi Seli-Zacharias (31), Politologin und Landtagsabgeordnete. Sie sprechen von einem „historischen Abend“, von „einem berauschenden Wahlkampf mit Presseanfragen aus der ganzen Welt“, von einem „Zuspruch innerhalb der Bevölkerung wie nie zuvor“.

Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider. Bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen bleibt die CDU landesweit mit 34,2 Prozent stärkste Kraft, die SPD erreicht 22,6 Prozent. Beide Parteien verzeichnen Verluste und stehen so schwach da wie nie seit Gründung des Landes 1946. Die Grünen fallen auf 11,7 Prozent zurück, die AfD steigt hingegen auf 16,4 Prozent.

In Gelsenkirchen kam der AfD-Oberbürgermeisterkandidat Norbert Emmerich auf 29,75 Prozent und zieht damit in die Stichwahl gegen SPD-Bewerberin Karin Henze, die 37 Prozent erreicht. Bei der Ratswahl liegt die AfD in Gelsenkirchen mit 30,05 Prozent ebenfalls knapp hinter der SPD (30,26 Prozent). Die CDU folgt abgeschlagen mit 19,18 Prozent. Grüne und Linke schaffen jeweils etwas über vier Prozent.

Damit läuft in Gelsenkirchen alles auf ein Duell zwischen SPD und AfD hinaus – ein Ergebnis, das die einstige SPD-Hochburg erschüttert. Nur sieben Prozentpunkte trennen die beiden Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters. Bei der Ratswahl liegen beide Parteien nahezu gleichauf. Die CDU spielt in der Stadt nur noch eine Nebenrolle.

Armutszuwanderung und ihre Folgen

Emmerich beugt sich vor, die Hände auf den Tisch gelegt. Er zeigt sich mit den Zahlen zufrieden: „Die AfD ist in der Mitte der Stadtgesellschaft angekommen.“ Gleichzeitig beschreibt er eine Stadt im Niedergang. „Die Menschen ziehen weg, weil sie die Nase voll haben“, sagt er. „Die Einkaufsqualität hat stark nachgelassen, weil die Geschäfte verschwinden.“ C&A nur noch auf einer Etage, der Kaufhof weg. Für ihn ist das Sinnbild eines Standortes, der Zukunft verpasst hat. „Es bleiben nur Billigheimer.“

Danach übernimmt Seli-Zacharias und setzt bei dem für sie wichtigen Punkt der Armutszuwanderung an. „In Gelsenkirchen gibt es mobile Kitas nur für Roma-Familien. Fragen Sie mal eine arbeitende Mutter, ob sie so etwas je bekommen hätte.“ Die Stadt, sagt sie, sei überfordert: Ganze Straßenzüge verwahrlost, Schrottimmobilien verfallen, Sozialbetrug habe mittlerweile mafiösen Strukturen angenommen. Ihre Stimme wird lauter. „Dieses Ungleichgewicht ist ein Schlag ins Gesicht jedes Menschen, der hier jeden Morgen aufsteht.“ Dann wird es kurz still. „Wir sind längst Volkspartei. Uns wählen hier auch Migranten, die keine Lust mehr haben auf diese katastrophalen Zustände.“

Ein Reporter fragt nach den Chancen von Emmerich in der Stichwahl. Emmerich antwortet sichtlich um Sachlichkeit bemüht: „Entscheidend ist, was die Menschen wollen. Ein ,Weiter so‘ kann es nicht mehr geben.“ Neben ihm spricht Seli-Zacharias von „konkreten Angeboten für die Gelsenkirchener Bürgerschaft“ und davon, dass die AfD ihre Wählerschaft in Gelsenkirchen und dem Ruhrgebiet mittlerweile „zementiert“ habe. Trotzdem ist zu erwarten, dass sich alle Parteien weiterhin gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD aussprechen werden.

Unterstützung kam kurz vor der Wahl auch von ganz oben. AfD-Chefin Alice Weidel reiste extra nach Gelsenkirchen, stellte sich an die Seite von Emmerich und Seli-Zacharias. Vor laufenden Kameras sprach sie von den „unzumutbaren Zuständen“ in der Stadt und betonte, mit der AfD wäre „so etwas niemals möglich gewesen“. Unterwegs war die Delegation dabei in Gelsenkirchen-Ückendorf, einem Stadtteil, der wie kaum ein anderer für die sozialen Probleme steht.

Für die Landtagsabgeordnete Seli-Zacharias war der Besuch von Weidel ein Signal: „Dass Alice Weidel hier auftritt, zeigt, welche Bedeutung Gelsenkirchen für die AfD hat.“ Auf der Wahlparty im Hans-Sachs-Haus greifen OB-Kandidat Emmerich und sie das Thema wieder auf. Emmerich spricht von Schrottimmobilien als Symbol des Niedergangs: „Wenn Eigentümer aus verfallenen Häusern noch Profit schlagen, indem sie Matratzen für 200 Euro vermieten, dann ist Schluss.“ Seli-Zacharias knüpft daran an: „Diese Stadt wurde kaputtgespart und vernachlässigt. Wir haben die Probleme offen benannt – und dafür Zuspruch wie nie zuvor bekommen.“

Seli-Zacharias tritt selbstbewusst auf. „Links ist vorbei“, betont sie immer wieder. Unten im Foyer des Hans-Sachs-Hauses hängen bunte Handabdrücke auf blauen Tafeln. „Menschenrechte für alle“ steht daneben, „Unser Herz schlägt bunt“. Vereine und Initiativen aus der Stadt haben die Ausstellung angebracht, das Kommunale Integrationszentrum ist einer der Absender. Es ist das Bild der klassischen Integrationspolitik, wie sie in Gelsenkirchen über Jahre von der regierenden SPD vorangetrieben wurde: Projekte gegen Diskriminierung, Programme für Vielfalt, bunte Symbole für ein offenes Miteinander.

Seli-Zacharias hat selbst albanische Wurzeln. Mit sechs Jahren wanderte sie mit ihrer Familie aus Albanien ein, Jahre später nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an. Aus ihrer Perspektive haben Kinder mit Migrationshintergrund es heute schwerer sich zu integrieren. In den Schulen könne man sehen, wie die Stadt sich „unterwirft“ – mit Halal-Essen in der Mensa und progressiven Flaggen am Fahnenmast. „Diese Ideologie benachteiligt die Kinder strukturell“, sagt sie, „sie senkt den Gesamtschnitt einer ganzen Schule.“ Ihr Vorwurf: Lehrer und Schulleitungen hätten längst den Anspruch aufgegeben, dass Deutsch im Unterricht die gemeinsame Sprache sei. Statt die Kinder konsequent sprachlich zu fördern, werde eine Vielfalt gefeiert, die niemandem helfe. „Wir haben hier junge Menschen in dritter Generation, die kein richtiges Deutsch können und auch ihre Herkunftssprache nicht.“

Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.

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