Es feierte die israelitische Kultusgemeinde der bayerischen Landeshauptstadt ihre gegen viele Widerstände neu erstandene Synagoge. Dass der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) zum Festakt erscheinen würde, galt als gesetzt und wohl auch, dass Ministerpräsident Markus Söder dort auftreten würde. Mit Bundeskanzler Friedrich Merz hätten wohl die wenigsten der rund 500 Gemeindemitglieder im Saal gerechnet. Der Anlass gab seinen Besuch her, und die Gäste erlebten einen Friedrich Merz, wie sie ihn so vielleicht noch nie erlebt haben.
Es ist beinahe obligatorisch, die bemerkenswerte Historie der „Reichenbach“ zu erwähnen: Erbaut wurde sie 1931, kurz vor der Machtergreifung der Nazis. Nur wenige Jahre später, am 9. November 1938, wurde sie während des eskalierenden Judenhasses in der Reichspogromnacht von SA-Schergen in Brand gesetzt. In ihre feierliche Wiederherstellung mischt sich eine aktuelle politische Lage in Nahost und ein damit verbundener erneut aufflammender Antisemitismus. Einer, der nach dem Zweiten Weltkrieg „vielleicht nie ganz verschwunden war“, wie Merz in seiner Ansprache sagte. Er erinnerte daran, dass schon 1970 bei einem tödlichen Anschlag auf ein jüdisches Altenheim gleich neben der Synagoge sieben Menschen ermordet wurden, unter ihnen zwei Überlebende des Holocaust.
Mit fester Stimme sagte Merz, der Holocaust sei so „radikal böse“ gewesen, dass er, „um mit der großen deutsch-jüdischen Denkerin Hanna Arendt zu sprechen, einfach nicht hätte passieren dürfen...“ Merz hielt einen Moment inne. Hörbar rang er um Fassung, ehe er den Satz beendete: „...unter uns Menschen.“
Mit beiden Händen umfasste Merz nun das Rednerpult und schaute auf sein Manuskript. „Liebe Frau Salamander“, las er mit erstickter Stimme in Richtung Rachel Salamander, einer Münchner Ehrenbürgerin und Literaturwissenschaftlerin, die die Restauration der Synagoge organisiert hatte, vom Blatt ab. Merz holte noch einmal Luft: „Sie sind aufgewachsen als Tochter von Überlebenden der Shoah in einem Displaced-Person’s-Camp bei München.“ „Displaced Persons“ waren Menschen, die nach dem Krieg überwiegend aus Osteuropa in der Bundesrepublik gestrandet waren.
In einem Ihrer Bücher habe Sie geschrieben, zitierte Merz, wie Sie „als Kind immer wieder diese eine Frage gestellt haben: Ob denn den Juden niemand geholfen habe?“ So emotional hat man Friedrich Merz vielleicht noch nie gesehen. Er rang mit den Tränen. Rachel Salamander saß in der ersten Reihe und wirkte angetan von den offen ausgedrückten Gefühlen des Bundeskanzlers. In der Synagoge, gefüllt bis auf den letzten Platz, war es ganz still. Markus Söder flüsterte Salamander etwas zu. Sie lächelte Söder an und strich ihm mit der Hand über den Arm.
Dann setzte Merz seine Rede fort: „Auch heute müssen wir das Entsetzen darüber zulassen, dass die allermeisten eben nicht geholfen haben.“ Erst jetzt könnten „wir beginnen zu verstehen, was es heißt, dass sich unmittelbar nach dem Krieg Jüdinnen und Juden trotz allem entschieden haben, in Deutschland, in München, in anderen deutschen Städten und Gemeinden zu bleiben“ und dort wieder eine Heimat gefunden haben. „In dem Land, von dem die Shoah ausgegangen war“, so Merz. Die Bundesregierung sage dem Antisemitismus „den Kampf an, in jeder Hinsicht“, versicherte Merz. Ausdrücklich auch, wenn er „unter dem Deckmäntelchen der Freiheit der Kunst und der Wissenschaft“ daherkäme.
Es war eine gelungene Rede von Merz. Vielleicht fehlte ein Wort zu seiner scharfen Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen, fanden einige Zuhörer. Markus Söder sprach nach dem Bundeskanzler und tat es.
„Natürlich ist Kritik am Staat Israel zulässig“, sagte Söder
Söder sagte, jeder habe gespürt, „wie tief bewegt wir in diesem Moment sind“. Die Wiedereröffnung der Synagoge verglich er mit einem „Lichtkegel in der Dunkelheit“. Söder beklagte aufflammenden neuen Judenhass und verwies auf seine Herkunft: „Rechtsradikal, natürlich“, aber auch „türkischer Nationalismus“, „verfassungsfeindliche Parolen“, „politischer Islamismus“. Er kritisierte, dass der jüdische Dirigent Lahav Shani von einem Musikfestival im belgischen Gent ausgeladen wurde, wo er mit den Münchner Philharmonikern hätte auftreten sollen. Er erinnerte an den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez, der „in einer unglaublich radikalen Weise sagt, dass ihm Waffen fehlen würden, um Israel zu stoppen“. Sanchez hatte ganz offensichtlich Atomwaffen gemeint.
„Natürlich ist Kritik am Staat Israel zulässig“, sagte Söder dann. Die mache sich Israel auch selbst. „Keine Entscheidung der Regierung wird getroffen, ohne Kritik im eigenen Land.“ Dass Israel demokratisch streite, sehe man schon daran, dass es dort in den letzten Jahren immer wieder Neuwahlen gegeben habe, „häufiger als in Bayern“. Und was den Konflikt um Gaza betreffe, sagte Söder: „Wenn die Hamas die Waffen abgibt und die Geiseln freilässt, ist morgen Frieden. Wenn Israel seine Waffen abgibt, kommt das nächste Massaker.“ Dafür gab es kräftigen Beifall. Auch der israelische Botschafter, Ron Prosor, der zur Feierstunde nach München gekommen war, klatschte.
Initiatorin Rachel Salamander schilderte schließlich, wie mühselig es gewesen sei, die Synagoge zu restaurieren. Sie und ihre Mitstreiter hätten sich an den ursprünglichen Plänen des Architekten Gustav Meyerstein orientiert, der das Haus im Bauhaus-Stil errichtet hatte. Es sei sein letztes Projekt in Deutschland gewesen, danach wanderte er nach Palästina aus und gehörte dort zu den Architekten, die das Bauhaus-Viertel in Tel Aviv entwarfen – darunter auch das Wohnhaus des israelischen Staatsgründers David Ben Gurion.
Nachdem die Nazis die Synagoge in Brand gesetzt hatten, brachte man dort eine Autowerkstatt und ein Lager unter. Nach Kriegsende richteten jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa das Haus als Synagoge wieder ein, „notdürftig“, wie Salamander betonte. Bis 2006 war die „Reichenbach“ die Hauptsynagoge der Münchner Gemeinde. Sie zog dann in den Neubau am Jakobsplatz um. Das Gebäude drohte zu verfallen, bis Salamander die Rekonstruktion in Angriff nahm. Die Kosten in Höhe von 14 Millionen Euro teilten sich Bund, Freistaat Bayern und die Stadt München zu je 30 Prozent, der Synagogen-Verein übernahm zehn Prozent.
Als makabere Kuriosität bleibt der Einspruch des Münchner Denkmalschutzamtes zurück, das zunächst darauf bestanden hatte, die Synagoge nicht nach den ursprünglichen Plänen des Architekten Meyerstein zu rekonstruieren. Sie sollte nach dem provisorischen Zustand des Jahres 1947 rekonstruiert werden. Oberbürgermeister Dieter Reiter räumte in seiner Ansprache deshalb ein, „die Begeisterung der Denkmalschützer war überschaubar, als es dann doch anders kam“.
Und dann überraschte Reiter die Gäste in seiner Ansprache mit einer echten Nachricht: Der Terroranschlag auf das jüdische Seniorenheim neben der „Reichenbach“ im Jahr 1970 werde von der Generalstaatsanwaltschaft wieder untersucht. Es gebe neue Hinweise auf mögliche Täter.
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