Benjamin „Bibi“ Netanjahu, seit mehr als 15 Jahren immer wieder Ministerpräsident Israels, kann den Protest nicht übersehen und überhören. Die Zufahrt zu seinem Wohnsitz mitten in Jerusalem wird gesäumt von gelben Plakaten und Bildern von Geiseln. Wann immer ein Wagen hinein- oder hinausfährt, schwillt ein Rufen und Pfeifen derjenigen an, die offenbar permanent hier campieren. Nein, Netanjahu merkt hautnah, dass Israel zunehmend gespalten oder eher ratlos ist, wohin das Land steuert.
Diese Polarisierung ist nicht neu. Es gibt sie seit Beginn der Offensive in Gaza. Da ist die große konservative bis rechte Bevölkerungsschicht in Israel. Wahrscheinlich stellen sie die Mehrheit des Landes. Menschen, die für harte Linien sind, die die Militäraktion in Gaza ausweiten und den Siedlungsbau vorantreiben wollen, unempfänglich für internationale Kritik.
Dann ist da die urbane Elite, vor allem in Tel Aviv, mit seinem liberalen Lebensstil sicherlich nicht repräsentativ für den Rest des Landes. Dass sich gerade hier von Anbeginn der Protest gegen die Politik, gegen die Militäraktionen der Regierung Netanjahu sammelt, überrascht nicht. Wenn sich jeden Samstagabend tausende Menschen auf dem Hostage-Square, wie der Platz vor dem Tel Aviver Kunstmuseum seit bald zwei Jahren heißt, versammeln und lautstark protestieren.
Doch etwas ist nun anders. Zwei Aktionen der Regierung Netanjahu sind es, die die Stimmung in Israel grundsätzlich verändert haben.
Zum einen der Angriff auf die Hamas-Führungsriege in Katar am 9. September. Es ist ja richtig: Katar spielt eine fragwürdige Rolle in dem gesamten Konflikt. Es positioniert sich öffentlichkeitswirksam als wichtiger Akteur, der vermitteln will, auf der Weltbühne glänzen möchte, um so eine Bedeutung zu bekommen, die dem Ministaat mit seinen dreieinhalb Millionen Einwohnern sonst nicht zukäme. Aber Katar ist eben auch unbestritten seit vielen Jahren Rückzugsort für Islamisten. Wie etwa der aus Tunesien stammende radikale Prediger Yusuf al-Qaradawi, der von Katar aus üble Hetze gegen Juden und den Westen verbreitete und später sogar katarischer Staatsbürger wurde. Qaradawi pries den Holocaust als Allahs Rache an den Juden. Ebenfalls in Katar Zuflucht gefunden haben Hamas-Kader. Wobei es nicht nur Zufluchtsort ist. Unbestritten und belegt sind auch Finanzströme aus Katar zu Islamisten. Nein, das Land ist kein unbescholtener, unbeteiligter Dritter.
Dennoch hat der Angriff auf den Golfstaat viele derjenigen in Israel schockiert, die ansonsten eher auf Bibis Seite sind, ein hartes Vorgehen gegen den Islamismus unterstützen und linke Protestler für naive Träumer halten. Der Iran, Jemen, der Libanon sind in den Augen vieler nahezu hoffnungslose Trümmerstaaten. Aber die Golfstaaten stehen für viele Israelis, auch konservative, für einen neuen Ansatz, für einen möglichen Weg in die Zukunft. Im Jahr 2020 unterzeichnete Israel mit mehreren arabischen Staaten das sogenannte Abraham-Abkommen, eine historische Annäherung insbesondere zu den Vereinigten Arabischen Staaten und Bahrain.
Seitdem gibt es täglich mehrere Flüge von Israel nach Dubai und Abu Dhabi. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Die Unterzeichnerstaaten, aber auch das große, wahabitische Saudi-Arabien, haben in den vergangenen Jahren nach Außen einen pragmatischen Ansatz in Sachen Israel verfolgt. Das ließ hoffen. Das Existenzrecht Israels schien keine Frage mehr zu sein. Es ging vielmehr um Wirtschaft und Forschung. Dass die Palästina-Krise angesichts der Normalisierung der Beziehungen zu den Golfstaaten in den Hintergrund gedrängt wurde, war wahrscheinlich ein maßgeblicher Grund dafür, dass es zum Massaker vom 7. Oktober kam. Terroristen wollten diese Normalisierung nicht zulassen.
Aber die Golfstaaten sind auch kein einheitlicher, untereinander harmonischer Raum. Im Gegenteil. Es gibt eine tiefe Rivalität zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Saudi-Arabien auf der einen Seite – und Katar, welches das Abraham-Abkommen nicht unterzeichnet hat.
Hat Netanjahu gedacht, der Angriff auf das Hamas-Quartier in Doha sei daher unschädlich für die Beziehungen zu den anderen Ländern der Region? Falls das sein Gedanke war, hat er sich als falsch erwiesen. So forderte etwa der emiratische Multimilliardär Khalaf al-Habtoor, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten am Golf, nach der Attacke, dass die arabischen Staaten ihre Lufträume kollektiv für Israel sperren, um dem Land wirtschaftlich zu schaden. Wenn der Angriff also eines geschafft hat, dann auch am Golf das Feindbild Israel wiederzubeleben. Das beunruhigt viele, auch konservative Israelis.
Mehr noch: auch die USA, Verhandler und Wegbereiter des Abraham-Abkommens fühlen sich von Israel zunehmend verprellt. „How Israel is losing America“ (dt. „Wie Israel Amerika verliert“) titelt der „Economist“ diese Woche und stellt fest, dass die Beziehungen mitnichten „stabil wie die Klagemauer“ seien – so hatte es Netanjahu beim Treffen mit US-Außenminister Marco Rubio erklärt, sondern weitaus schlechter. Der anhaltende Krieg in Gaza führe Israel in eine internationale Isolation, stellt das Magazin fest und zitiert Umfragen, in denen 53 Prozent der Amerikaner eine negative Meinung von Israel haben, 43 Prozent glauben, dass Israel in Gaza einen Genozid begehe.
Womit wir beim zweiten Grund wären, der Israel an den Kipppunkt geführt hat: Die große Bodenoffensive in Gaza-Stadt, die am 16. September begonnen hat. Netanjahu hatte wenige Tage zuvor die Ziele bekräftigt, die er verfolgt: Die Hamas zerstören und die Geiseln befreien. Aber wie realistisch ist beides, fragen sich viele Menschen in Israel. Die Hamas ist irgendwie da – auch wenn Experten wie der Holocaustforscher Omer Bartov bezweifeln, dass sie als organisierte Struktur noch existiert. Aber kapituliert haben die Terroristen nicht und offenbar sind sie so gut organisiert, dass sie die Geiseln weiter festhalten können.
Die Hoffnung, die Geiseln zu befreien, ist mit Beginn der Großoffensive auf Gaza-Stadt geringer denn je. Ja, die Demonstranten, die sich in Tel Aviv, etwa am Dizengoff Square versammeln, betonen, sie hoffen weiter auf die Freilassung der wenigen wohl noch lebenden Geiseln – oder zumindest die Überführung ihrer Leichen. 48 Geiseln werden noch immer von der Hamas festgehalten, 26 von ihnen wurden bereits für tot erklärt.
Darunter sind Freunde und Angehörige, die um den zentralen Brunnen Bilder aufgestellt, Blumen und Teddybären abgelegt haben. Aber in ihren Augen, ihrer Mimik wird ihre tiefe Resignation überdeutlich: Ihre Worte der Hoffnung werden zunehmend zu Selbstsuggestion. Glauben sie wirklich noch daran?
So kommt es, dass sich inzwischen ein Großteil der Israelis die Frage stellt: Wo führt das hin? Gibt es überhaupt einen Plan für die Rolle Israels im Nahen Osten in der Zukunft? Israel befindet sich an einem entscheidenden Punkt. Es kämpft gegen Feinde und verprellt seine wenigen Freunde in der Region.
Kürzlich schwor Netanjahu sein Land sogar auf eine weitere Isolation ein und lobte als Ziel aus, Israel müsse wie einst der Stadtstaat Sparta in der Antike seine Wirtschaft und Rüstungsindustrie autark aufstelle. Israelische Wirtschaftsverbände regierten entsetzt. Zudem scheinen die Ziele der laufenden Militäroperation kaum mehr erreichbar. Netanjahu lässt die Israelis im Unklaren über das, was danach folgt. So lässt sich die Stimmung im Land mit einem Wort zusammenfassen: Ratlosigkeit.
Constantin Schreiber ist Teil des Axel Springer Global Reporters Netzwerk, zu dem neben WELT auch „Bild“, „Business Insider“, „Onet“ und „Politico“ gehören.
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