Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten. So lautet das achte Gebot in der Bibel. Oder in der Gegenwartssprache: Du sollst nicht lügen. Schwierig wird die Einhaltung dieser moralischen Grundregel, die sich auch in nicht-christlichen Religionen findet, wenn man mit der Lüge etwas erreichen kann, das man unbedingt anstrebt. Wer nach Deutschland einwandern will, ohne ein Visum beantragt zu haben, kann dieses Ziel trotzdem erreichen. Falls er tatsächlich geflohen ist, in der Heimat verfolgt wird oder von Kriegsgefechten an Leib und Leben bedroht ist. Oder wenn er eine solche Fluchtgeschichte glaubhaft vorträgt, ohne dass sie stimmt.

Wenn den Asylentscheidern auffällt, dass eine erzählte Fluchtgeschichte sehr widersprüchlich ist, wird der Antrag abgelehnt. Oder wenn Hinweise auftauchen, dass beispielsweise ein angeblich syrischer Antragsteller in Wahrheit Tunesier ist. Oder wenn der angeblich wegen seines christlichen Glaubens verfolgte Iraner noch nichts von den Zehn Geboten gehört hat.

Lange Zeit gab es kein Gesetz, dass derartige Falschangaben im Asylverfahren unter Strafe stellte. Strafbar war stattdessen lediglich der Missbrauch ausländerrechtlicher Dokumente, etwa das Vorlegen eines falschen Passes.

Das änderte sich unter der Ampel-Regierung: Im Februar 2024 trat eine Verschärfung in Kraft. Seither kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter den tausenden Ausländern, die monatlich wahre, halb wahre und ausgedachte Fluchtgeschichten vortragen, gegen besonders dreiste Lügner Strafantrag stellen. Denn seit Februar 2024 wurde der Paragraf 85 Absatz 2 ins Asylgesetz eingefügt, der eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe vorsieht für Ausländer, die das BAMF vorsätzlich anlügen, um anerkannt zu werden. Dieselbe Möglichkeit hat das BAMF durch den neuen Paragrafen auch während der sogenannten „Widerrufsverfahren“, in denen geprüft wird, ob ein Ausländer immer noch den einmal vergebenen Schutztitel benötigt.

Doch wie WELT erfuhr, wird die neue rechtliche Möglichkeit so gut wie gar nicht genutzt. Seit Februar 2024 hat das BAMF erst dreimal Anzeige erstattet. Gegen einen Syrer, einen Libanesen und einen Tadschiken. Eines der Verfahren wurde bereits wegen Geringfügigkeit eingestellt. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage hervor.

Gottfried Curio, der innenpolitische Sprecher der Fraktion, kritisiert: „Das BAMF hat 2024 über 300.000 und 2025 über 200.000 Asylentscheidungen getroffen, jedoch nur in drei Fällen gemäß der neuen Strafnorm Strafanzeige erstattet. Dass es pro 100.000 Asylverfahren im Schnitt weniger als einen Fall mit zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für eine vorsätzliche Falschangabe gibt, ist völlig lebensfremd.“

Das Anzeigeverhalten des BAMF laufe darauf hinaus, die „Norm durch Untätigkeit faktisch außer Kraft zu setzen“. Das BAMF solle die Norm eineinhalb Jahre nach deren Inkrafttreten endlich in seine Arbeitsabläufe integrieren und in allen Fällen mit hinreichenden Anhaltspunkten für eine vorsätzliche Falschangabe konsequent Anzeige erstatten, so Curio.

Auf die WELT-Anfrage, warum in den hunderttausenden Asylverfahren seit der Gesetzesverschärfung nicht häufiger Anzeige erstattet wurde, teilt das BAMF mit: „Die Dienstanweisungen des BAMF, die verbindlich für alle Mitarbeitenden sind, weisen ausdrücklich auf die Regelungen des Paragrafen 85 Abs. 2 Asylgesetz hin. Die Vorgaben zur Umsetzung werden derzeit jedoch überarbeitet und befinden sich in der amtsinternen und fachaufsichtlichen Abstimmung.“

Der Gesetzgeber habe für eine Strafbarkeit gemäß dem Paragrafen 85 Absatz 2 des Asylgesetzes konkrete Anforderungen aufgestellt, für die das BAMF entsprechende Feststellungen im Einzelfall treffen müsse. „Eine Relation der Häufigkeit der Fälle, in denen die Voraussetzungen für eine mögliche Strafanzeige gegeben sind, und der Anzahl der Asylverfahren kann nicht hergestellt werden“, argumentiert das Amt.

Sebastian Fiedler, der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, hält die Gesetzesverschärfung der vorigen rot-grün-gelben Bundesregierung gegen Täuschungen im Asylverfahren trotz der seltenen Anwendung für eine Verbesserung: „Wir haben hier bewusst eine Strafbarkeitslücke geschlossen. Das halte ich noch immer für absolut richtig und geboten“, sagt er auf WELT-Anfrage.

Die Frage, ob eine Handlung strafbar sein sollte oder nicht, sei losgelöst von der Frage zu beantworten, wie ausgeprägt die Anzeigenbereitschaft und wie effektiv die Strafverfolgung organisiert sei. „Es geht um den Unwertgehalt einer Tat. Der ist bei der Schaffung der neuen Tatbestände definitiv gegeben.“ Im Ideal-Fall führe die Strafbarkeit zu einer Abschreckung und zu rechtskonformem Verhalten und damit zu wenigen Taten, die in den Statistiken auftauchen. „Mir liegt allerdings keine Studie vor, die das untersucht hätte.“

Auf eine abschreckende Wirkung zu setzen, ist nachvollziehbar. Denn weil nur eine Minderheit der monatlich immer noch mehreren tausend neu ankommenden Asylbewerber Personaldokumente vorzeigt, haben die überlasteten Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in vielen Fällen keine andere Quelle, um über den Wahrheitsgehalt einer berichteten Fluchtgeschichte zu urteilen, als den Migranten selbst.

Politikredakteur Marcel Leubecher schreibt seit vielen Jahren über die Themen Migration- und Asylpolitik sowie Integration von Zuwanderern.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.