Es ist kein gewöhnlicher Vorgang, dass der Verteidigungsminister an einem der regelmäßigen Treffen der ostdeutschen Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler teilnimmt. Aber es sind, was die internationale Sicherheitslage und die Frage der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands angeht, eben außergewöhnliche Zeiten.

Also machte sich neben Friedrich Merz (CDU) am Donnerstag auch Boris Pistorius (SPD) auf den Weg nach Schloss Ettersburg bei Weimar, auf dem die Ost-Regierungschefs tagten. Pistorius hatte dort eine beunruhigende Botschaft für die Gastgeber der sogenannten Ost-MPK (Ministerpräsidentenkonferenz). Und die hatten, wohlvorbereitet und untereinander detailliert abgestimmt, eine weitreichende Forderung an den Minister.

Mit Blick auf die Verletzung des Luftraums westlicher Staaten durch russische Kampfjets und zunehmender Einsätze von Drohen, die mutmaßlich aus Russland geschickt werden, sagte Pistorius: „Wir werden attackiert, hybrid und mittels Desinformationskampagnen. Und eben durch das Eindringen von Drohnen.“ Nur zwei Tage nach dem Drohnenalarm am Flughafen Kopenhagen wurden am späten Mittwochabend bis in die Nacht zum Donnerstag hinein weitere Drohnen über einer Reihe von Flughäfen im Nato-Land Dänemark gesichtet. „Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im kompletten Frieden“, stellte der Minister fest.

Bereits die Ampel-Koalition unter dem damaligen Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte nach dem Überfall Russlands auf die gesamte Ukraine ein „Sondervermögen“, also ein Schuldenpaket, in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung beschlossen. Mit den Stimmen der Union. Die schwarz-rote Koalition unter Kanzler Merz hat angesichts der Bedrohungslage schon mit ihrem Start kräftig nachgelegt. Für die Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben wird die Schuldenbremse ausgesetzt – und zwar für alle Ausgaben, die über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinausgehen.

Damit können zusätzlich zum Verteidigungshaushalt weitere Milliarden für den Kauf von Waffensystemen und die Aufstockung der Bundeswehr fließen. Und von beidem wollen die Ost-Ministerpräsidenten nun profitieren: Die Rüstungsindustrie soll mehr als bislang im Osten produzieren. Außerdem sollen verstärkt Truppen im Osten stationiert und dort neue Kasernen gebaut werden.

Zuvor waren die sechs Ministerpräsidenten auf Schloss Ettersburg zu dem Ergebnis gekommen, es sei im Zuge der Aufrüstung „entscheidend, dass ein substanzieller Anteil der damit verbundenen Wertschöpfung auch dem Osten unmittelbar zugutekommt“. Die Bundesregierung wurde daher aufgefordert, so heißt es in dem Beschluss, „dies bei entsprechenden Ausschreibungen gezielt zu berücksichtigen“.

Die geplante Beschleunigung der Vergabeverfahren des Bundes solle mit einer „ausgewogenen Standortförderung“ verbunden werden. „Angesichts der militärtaktischen Erfordernisse an der Nato-Ostflanke ist es geboten, Produktions- und Instandsetzungskapazitäten verstärkt in Ostdeutschland zu etablieren“, heißt es in dem Beschluss. Unternehmen mit entsprechenden Investitionsabsichten sollen gezielt an die ostdeutschen Länder vermittelt werden.

Stärker als bislang wollen die Ministerpräsidenten Ostdeutschland außerdem zum Truppenstandort machen. Eine Aufstockung der Bundeswehr ist geplant – und würde der geplante freiwillige Wehrdienst von Minister Pistorius ein Erfolg, müssten bestehende Standorte zum Teil erweitert oder neue Kasernen gebaut werden.

Die Regierungschefs in Ostdeutschland wollen nun, dass bei neuen und erweiterten Bundeswehrstandorten nach dem Prinzip des Konzepts zur Ansiedlung und Erweiterung von Bundes- und Forschungseinrichtungen der Bundesregierung verfahren wird. Standortentscheidungen, Ausbildungsstandorte und Kasernen, sollten „konsequent daran ausgerichtet“ werden. Das würde bedeuten, dass ein Teil solcher Standorte nach einem Verteilungsschlüssel im Osten errichtet würden.

Die Ministerpräsidenten tragen damit nicht nur der neuen Bedrohungslage Rechnung. Sie verweisen in ihrem Beschluss zwar auf ihre „logistische Bedeutung für Truppenbewegungen an der Nato-Ostflanke“ und den „Zugang zum Ostseeraum“. Kurz: auf die Nähe zu Russland. Aber es geht um mehr – nämlich auch um die Unterstützung der heimischen Wirtschaft. In mehreren Beschlüssen der Runde fordern die Regierungschefs ein Bündel von Maßnahmen, um die Wirtschaft im Osten in Schwung zu bringen.

Der Beitrag der deutschen Rüstungsindustrie zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung ist zwar im Vergleich zu anderen Branchen überschaubar. Aber es gibt mit Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, ThyssenKrupp Marine Systems und MBDA Deutschland oder Diehl global erfolgreiche Hersteller und ein großes Netz an mittelständischen Herstellern. Deutschland gehört zu den weltweit größten Waffenexporteuren. Allein die wichtigsten Hersteller haben hierzulande rund 60.000 Mitarbeiter, einschließlich der Zulieferer sind es etwa 150.000. Unternehmen, die im Osten produzieren, würden dort Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen.

Ostdeutschland mit umfangreicher Rüstungsindustrie-Vergangenheit

Und es ist in den kommenden Jahren mit deutlichen Investitionen, Produktionssteigerungen, Werkserweiterungen und neuen Standorten in der Rüstungsindustrie zu rechnen. Truppenstandorte können, wie beispielsweise die der US-Armee in der Westpfalz, wirtschaftliche Impulse und Kaufkraftsteigerungen für ganze Regionen bringen.

Ostdeutschland hatte bis zur Auflösung der DDR eine umfangreiche Rüstungsindustrie, die Kleinwaffen, Armeefahrzeuge und Panzer, Schiffe, Elektronik und Optik für den militärischen Einsatz produzierte. Die Kombinate waren von Rostock bis Suhl über das ganze Land verteilt. Im Zuge der Wiedervereinigung wurden nahezu alle Werke abgewickelt. Die spätere Verkleinerung der Bundeswehr und die Erwartung einer globalen politischen Entspannung führten dazu, dass westdeutsche Rüstungsunternehmen kaum im Osten investierten.

Laut Branchenangaben liegen derzeit rund 90 Prozent der Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie in Westdeutschland, sie konzentriert sich neben den großen Hafenstädten und der Region Rhein-Ruhr vor allem in Baden-Württemberg und Südbayern und gehören dort in aller Regel zu den Konjunkturtreibern.

Gastgeber Mario Voigt (CDU), Ministerpräsident von Thüringen, führte noch ein weiteres Argument für den Rüstungsplan-Ost an: Ein überproportional hoher Anteil der Bundeswehrsoldaten komme aus Ostdeutschland. „Wenn wir Schulden aufnehmen, wird es auch darum gehen, dass die Bürger im Osten, die damit auch viel bezahlen, was davon haben“, sagte Voigt zum Abschluss vor Journalisten. Er erwarte, dass von den Militärausgaben etwas im Osten ankomme. Immerhin habe der Osten Kompetenzen vor allem in der Optik, Luft- und Raumfahrt sowie im Maschinenbau.

Der Kanzler und der Verteidigungsminister reagierten freundlich auf die Forderungen der Ost-Ministerpräsidenten. „Wir sind uns total einig darüber, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um eben auch in Ostdeutschland die Standorte für Rüstungsindustrie auszubauen“, erklärte Pistorius. Die Sache hat allerdings einen Haken: Man kann die Unternehmen nicht wirksam dazu drängen, Produktionskapazitäten nach Osten zu verlagern. Die Hersteller werden erst bestehende Werke auslasten und dann dort aufstocken, wo die Anbindung gut ist und die Zulieferer sitzen.

„Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass es nur einen wesentlich kleineren Teil an Rüstungsindustriestandorten in Ostdeutschland gibt als in Westdeutschland, insbesondere in Süddeutschland“, räumte der Verteidigungsminister ein. Daran sei auf die Schnelle nichts zu ändern. Quoten sehe das Vergaberecht nicht vor und sie „würden uns auch zeitlich in erhebliche Bedrängnis bringen“. Immerhin war er auch aufgrund der Ansiedlungsforderung der Ministerpräsidenten nach Thüringen gekommen.

Der Kanzler zeigte sich etwas optimistischer. „Natürlich sind das Standortentscheidungen der Unternehmen, aber wir können natürlich schon dafür sorgen, dass die Standortentscheidungen unter besonders günstigen Bedingungen getroffen werden“, sagte Merz zum Abschluss. Der Verteidigungsminister kündigte eine Konferenz zusammen mit Vertretern der Rüstungsindustrie und des Bundeswirtschaftsministeriums an. „Verteidigungsfähigkeit in Deutschland heißt starke Rüstungsindustrie – und das heißt: möglichst in allen Regionen Deutschlands“, sagte er.

Es gibt allerdings noch einen zweiten Haken: den bisweilen heftigen Widerstand in Ostdeutschland gegen Aufrüstung und die Ansiedlung von Rüstungsunternehmen. Der Branchenriese Rheinmetall beispielsweise hatte 2023 seine Pläne für den Bau einer Pulverfabrik im nordsächsischen Großenhain, in der chemische Vorprodukte für Munition hergestellt werden sollten, aufgegeben – auch weil es massiven Widerstand der Bevölkerung gegeben hatte.

Das zur Ansiedlung geplante Areal war zu DDR-Zeiten ein Flugplatz gewesen, auf dem russische MiG-Kampfflugzeuge stationiert waren. Bis heute sprechen die Anwohner davon, deshalb damals eines der „Erstschlagsziele“ der Nato für den Fall eines militärischen Konflikts gewesen zu sein. Derart ins Fadenkreuz wollten die Anwohner nie wieder geraten und machten mobil gegen die Werkspläne. Der Konzern wich darauf auf Westdeutschland aus – auf das bayerische Aschau.

Nikolaus Doll berichtet über die Unionsparteien und die Bundesländer im Osten.

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