Russische Kampfjets über Estland, Drohnen über Polen, ein russisches Militärflugzeug überfliegt eine Fregatte der Deutschen Marine in der Ostsee – die Meldungen über mutmaßlich vom Kreml gesteuerte Provokationen gegen Nato-Länder häufen sich. Vor allem in den baltischen Staaten, die früher zur Sowjetunion gehörten, wächst die Sorge vor einer Eskalation. Putin, so heißt es dort, sehe Estland, Lettland und Litauen nach wie vor als Einflusszonen Moskaus an.
„Bei all diesen Vorfällen geht es Russland darum, die Nato-Staaten an der Ostflanke zu testen“, sagt Litauens stellvertretender Verteidigungsminister Tomas Godliauskas bei einem Gespräch mit WELT in der Hauptstadt Vilnius. Moskau wolle wissen, wie geschlossen das Bündnis sei und mit welchen Verfahren es auf solche Provokationen reagiere. Eine Reaktion darauf seien Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrages, der angewandt werde, wenn ein Mitgliedstaat seine Unversehrtheit, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sehe. „Es gibt nun Diskussionen darüber, wie wir die Ostflanke stärken können. Vor allem die Länder, die an Russland oder Belarus grenzen, nehmen die Bedrohungen im gemeinsamen Luftraum sehr ernst“, erklärt Godliauskas.
Es werde geprüft, mit welchen Mitteln man auf solche Provokationen in geeigneter Weise reagieren könne. So werde es in Litauen nun auch erlaubt sein, in Friedenszeiten Drohnen abzuschießen. „Für uns in der Region ist die Bedrohung durch Russland nichts Neues. Moskau will nicht verhandeln und eskaliert jetzt mit Cyberangriffen, Sabotage kritischer Infrastruktur, GPS-Störungen und Desinformation. Bei uns wächst aber dadurch das Bewusstsein, dass wir mehr tun und die richtigen Werkzeuge finden müssen, um solchen Angriffen zu begegnen.“
Godliauskas sagt, die westlichen Staaten müssten sich auf ein verändertes Bedrohungsszenario einstellen. „Vor 20 Jahren habe kaum jemand an einen konventionellen Krieg gedacht, eher an terroristische Aktionen.“ Der Krieg gegen die Ukraine habe aber gezeigt, dass die Nato wieder Fähigkeiten aufbauen muss, einen konventionellen Krieg führen zu können. Das schließe neue Technologien wie Drohnen, elektronische Kriegsführung und Künstliche Intelligenz ein. „Wir brauchen diese Fähigkeiten auch für eine glaubhafte Abschreckung.“
Dazu gehöre auch, entschlossen auf die Verletzung des Luftraums zu reagieren. Der Kommandeur der Luftwaffe und der Generalstabschef hätten jetzt die Möglichkeit, in Koordination mit der zivilen Luftfahrt, solche Bedrohungen schnell zu entschärfen. „In der neuen Realität muss auch Gewalt angewandt werden können, wenn der Luftraum verletzt wird.“
Zumindest einen kleinen Lichtblick nennt der Vize-Verteidigungsminister: „Wir wissen, dass viele Drohnen von Russland Richtung Ukraine fliegen. Die Ukraine hat leistungsfähige Systeme zur elektronischen Kampfführung entwickelt, die diese Drohnen stören, fehlleiten oder die Verbindung kappen. Solche fehlgeleiteten russischen Drohnen wurden nicht nur in Polen, sondern auch bei uns und über Lettland gesichtet.“ Diese drängen über Belarus ins Nato-Territorium ein. „Polen wurde von Belarus gewarnt, dass Drohnen unterwegs seien. Und auch wir haben eine Art Hotline für solche Fälle mit Belarus, was gut ist.“
Litauen, versichert Godliauskas, sei gut vorbereitet auf die Bedrohung durch Moskau. Alles, was die Nato an Möglichkeiten zur Verfügung habe, werde genutzt. „Wir sind sehr dankbar, dass die Bundeswehr mit einer eigenen Brigade Litauen unterstützt.“
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