Vor zwei Jahren trat Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) vor die Besucher der Christopher-Street-Day-Parade. „Wir wollen den Artikel 3 des Grundgesetzes ändern“, rief er ihnen zu: „Da muss die sexuelle Identität mit rein. Das ist mein Versprechen.“
Am Freitagmorgen nun hat der Bundesrat auf Initiative der schwarz-rot regierten Hauptstadt einen entsprechenden Beschluss gefasst. Die Länderkammer verlangt, die „sexuelle Identität“ in die Grundgesetz-Passage aufzunehmen, in der verbotene Diskriminierungsgründe aufgelistet sind. Neben Berlin hatten das schwarz-grün unter Hendrik Wüst (CDU) regierte Nordrhein-Westfalen, das schwarz-grün unter Daniel Günther (CDU) regierte Schleswig-Holstein sowie das rot-rote geführte Mecklenburg-Vorpommern unter Manuela Schwesig (SPD) die Initiative unterstützt.
Bislang heißt es in Artikel 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ 1994 wurde dort ergänzt nach einem Bundestagsbeschluss: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Auf eine Ergänzung der „sexuellen Identität“ wurde damals verzichtet, obwohl es eine Diskussion darüber gab.
Der Zusatz „sexuelle Identität“ soll unter anderem Schwule und Lesben vor Diskriminierung schützen. Befürworter einer solchen Grundgesetzänderung argumentieren: Schwulenfeindliche Gesetzgebung war in der Geschichte der Bundesrepublik trotz des Grundgesetzes möglich. Sexuelle Beziehungen unter Männern waren bis Anfang der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik strafbar. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte den entsprechenden Strafgesetzbuchparagrafen 175 zweimal.
Der Verband Queere Vielfalt e.V. (LSVD) begrüßte am Freitag die Initiative und nahm in seiner Stellungnahme Bezug auf diese Geschichte. „Bei der Einführung des Grundgesetzes wurden LSBTIQ* in Artikel 3 als verfolgte Gruppe im Nationalsozialismus bewusst ausgelassen“, so Alexander Vogt aus dem LSVD-Bundesvorstand. „Diese rechtliche Lücke schuf Boden für eine jahrzehntelange Kriminalisierung und Verfolgung queeren Lebens in der Bundesrepublik.“ Dieser historische Fehler müsse nach 76 Jahren endlich korrigiert werden; eine Grundgesetzergänzung sei daher seit Jahrzehnten „ein zentrales queerpolitisches Anliegen“.
Als 2019 Grüne, Linke und FDP ein Gesetz zur Ergänzung von Artikel 3 durch die „sexuelle Identität“ in den Bundestag einbrachten, folgten die meisten geladenen Experten bei der Expertenanhörung dieser Auffassung. Einer allerdings erklärte das Vorhaben angesichts der veränderten Rechtslage in der Bundesrepublik zu einem rein symbolpolitischen Akt.
Die vorgesehene Ergänzung biete aus verfassungsrechtlicher Sicht keine nennenswerte Verstärkung des Schutzes vor Diskriminierungen im Vergleich zur aktuellen Rechtslage und erscheine insoweit nicht erforderlich, so der Rechtswissenschaftler Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg damals dem Bundestag zufolge. Lediglich die im damaligen Gesetzentwurf betonte „Symbolfunktion“ der Verfassungsänderung und deren „Signalwirkung in die Gesellschaft hinein“, so Wollschläger damals, seien legitime Anliegen.
Gegner einer Änderung verweisen neben bereits bestehenden Antidiskriminierungsrechten auf die Unbestimmtheit des Begriffs „sexuelle Identität“. Laut Bundeszentrale für politische Bildung kommt der Begriff beispielsweise im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sowie den Berliner, Brandenburger und Bremer Landesverfassungen vor. Dort sei der Ausdruck aber nicht auf (homo-)sexuelle Orientierung beschränkt. Stattdessen meine er gleichermaßen das Geschlechtszugehörigkeitsempfinden sowie die sexuelle Orientierung. Und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts komme der Begriff nur bezogen auf die „Geschlechtsidentität“, also die empfundene Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, vor.
Eine wie von Wegner und Co. geplante Grundgesetzänderung könnte also den Schutz des individuellen Geschlechtsempfindens und somit auch das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel stärken. Ein Mitglied der Frauenrechtsaktivistengruppe Frauenheldinnen e.V. kritisierte am Freitag: Mit einer Aufnahme der „sexuellen Identität“ ins Grundgesetz würde ein „wissenschaftlich fragwürdiges Konstrukt über das biologische Geschlecht“ gestellt, was „Tür und Tor für Missbrauch“ öffne.
Grundgesetzänderung unwahrscheinlich
Dass es zu einer solchen Grundgesetzänderung kommt, ist aber derzeit trotz des Bundesratsbeschlusses wenig wahrscheinlich. Obwohl dieser von mehreren CDU-Ministerpräsidenten getragen wurde, spricht sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion deutlich dagegen aus – auch per Verweis auf die Unbestimmtheit des Begriffs der „sexuellen Identität“.
„Das Anliegen der Unterstützung von homosexuellen und queeren Menschen im Grundgesetz verstehe ich“, sagt Unions-Fraktionsvize Günter Krings (CDU) WELT. „Die aktuell vorgeschlagene Grundgesetzänderung ist aber nicht zustimmungsfähig. Denn der verfassungsrechtliche Diskriminierungsschutz ist bereits heute umfassend.“
Der Jurist Krings argumentiert: Ungleichbehandlungen wegen der sexuellen Orientierung seien durch Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ –, durch die sehr klare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sowie die EU-Grundrechtecharta „effektiv untersagt“. „In der Praxis besteht damit richtigerweise ein hohes, belastbares Schutzniveau für diesen Personenkreis.“
„Bedenklich erscheint der gewählte Begriff der ‚sexuellen Identität‘“, so Krings weiter. „Dieser Terminus ist rechtstechnisch unbestimmt und semantisch auch weiter als die in anderen Staaten genutzte Kategorie der ‚sexuellen Orientierung‘.“ Die Formulierung lade zu „Auslegungsstreitigkeiten ein, die niemand will, und führt zu Schwierigkeiten, wenn wir sicherstellen wollen, dass sich nicht etwa auch Pädophile auf diese Bestimmung berufen, denn für diesen Personenkreis wollen wir ja alle gerade keinen Diskriminierungsschutz.“ Ähnlich äußerte sich Krings zuvor gegenüber dem Fachportal LTO.
Die SPD-Fraktion dagegen begrüßt „ausdrücklich die heute im Bundesrat beschlossene Initiative, die sexuelle Identität als Diskriminierungsmerkmal im Grundgesetz zu verankern“, sagt Carmen Wegge, rechtspolitische Sprecherin der Fraktion. Und weiter: „Wir halten es für einen längst überfälligen und wichtigen Schritt.“ Die Erweiterung von Artikel 3 würde einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Gleichstellung und zum Schutz vor Diskriminierung leisten. Aus SPD-Fraktionskreisen ist zu hören, nun gelte es, mit der Unionsfraktion zu klären, ob und wann das Vorhaben tatsächlich im Bundestag landet.
Grüne und Linke freilich könnten die Koalition in Verlegenheit bringen und einen gleichlautenden Antrag – wie bereits 2019 – ins Plenum bringen. Die queerpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Nyke Slawik, veröffentlicht am Freitag aber zunächst einen Appell an das Kabinett von Kanzler Friedrich Merz (CDU): „Die Regierung muss gerade in den eigenen Reihen für eine breite Unterstützung werben. Nur so können wir diese historische Lücke schließen und unser Grundgesetz zu einem starken Schutzschild für alle Menschen machen.“
Den Linken geht der Länder-Vorstoß dabei noch nicht weit genug. Clara Bünger, die innenpolitische Sprecherin der Fraktion, sagt WELT, der Vorschlag zur Grundgesetzerweiterung sei „richtig und ein wichtiger Schritt, um die Rechte von queeren Menschen zu schützen“. Es brauche aber „viel mehr konkrete Maßnahmen, um Diskriminierung beispielsweise auf dem Wohnungsmarkt oder in der Arbeitswelt entgegenzuwirken. Wichtig wäre hierfür die Einführung einer Förderklausel“ in Artikel 3 des Grundgesetzes.
Die AfD spricht sich gegen den Vorstoß aus dem Bundesrat aus und argumentiert dabei ähnlich wie die Union. „Es besteht bereits kein Regelungsbedarf, nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die jetzige Fassung völlig ausreichend, und auch einfachgesetzliche Regelungen existieren“, so der AfD-Rechtspolitiker Stephan Brandner. Es bestehe die „große Gefahr, dass die Ausweitung auf die ‚sexuelle Identität‘ zur Ausurteilung unsinniger oder gar gefährlicher Sachverhalte genutzt wird und dem Bundesverfassungsgericht weitere Möglichkeiten gibt, seine Rechtsprechung so auszudehnen, wie es nicht gut ist.“
Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.
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