Russland testet mit seinen Angriffen und Luftraumverletzungen die Nato-Allianz aus. Doch Europa ist schlecht vorbereitet auf die Anforderungen moderner Kriegsführung, wie sie sich im Ukraine-Krieg offenbart haben. Die europäischen Nato-Länder können dabei viel von der Ukraine lernen.
1. Massenheer aufstellen
In vielen Nato-Ländern an der östlichen Flanke ist sie längst Realität, anderswo gibt es um sie heftige Debatten: die Massenarmee. Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass eine kleine, mobile und mit Spezialisten ausgestattete Armee – das Ideal der Nato-Friedenseinsätze der 1990er-Jahre – unzureichend ist, um gegen Russland zu bestehen. Derzeit rekrutieren russische Streitkräfte etwa 30.000 neue Soldaten im Monat.
Die Bundeswehr hingegen tut sich seit Jahren schwer, das Ziel von 200.000 Soldaten zu erreichen. Derzeit dienen etwa 182.000 Deutsche beim Militär. Nach Nato-Vorgaben bräuchte Deutschland laut Robert Sieger, Präsident des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr, 260.000 aktive Kräfte und 200.000 Reservisten. Das dürfte noch untertrieben sein. Allein sein Feldheer, so schreibt es Inspekteur Alfons Mais in einem internen Papier, das WELT AM SONNTAG vorliegt, benötige künftig 150.000 Soldaten, dazu 140.000 Kräfte für den Heimatschutz.
2. Technische Innovation ermöglichen
Die Ukraine ist ein Vorbild für agile technische Innovation. Mitten im Krieg ist dort praktisch aus dem Nichts eine Drohnenindustrie mit Hunderten Herstellern entstanden, die jährlich Millionen Drohnen produzieren. Vor dem Krieg gab es im Rüstungssektor der Ukraine gerade 50 private Firmen, derzeit operieren im Land mehr als 400. Forschung und Entwicklung läuft längst nicht mehr nur im Drohnenbereich.
Die Firmen investieren in KI-Systeme, Robotik, Cybersicherheit oder neuartige Waffensysteme. Der Staat und große Investoren behandeln Neueinsteiger in die Rüstungsbranche wie IT-Start-ups: Es gibt Inkubatoren, Fonds und „Angel Investors“. Mit Fördersummen ab 25.000 Euro können Tüftler ohne überbordende finanzielle Risiken neue Ideen ausprobieren. Geld verteilen nicht nur private Finanziers, sondern auch die staatlich gegründete Koordinationsplattform Brave1. Der Verteidigungssektor ist weitgehend von der Mehrwertsteuer befreit.
3. Drohnenkrieg lernen
Drohnen sind kein Ersatz für Kampfjets, weiterreichende Raketen und Artillerie. Der Ukraine-Krieg hat aber gezeigt, dass es ohne sie nicht mehr geht. Sie sind als billige FPV-Drohnen (First Person View; vom Piloten mithilfe einer eingebauten Kamera ferngesteuert) gegen Infanterie und gepanzerte Fahrzeuge an der Front im Einsatz, als schwere Drohnen mit Verbrennungsmotor gegen hunderte Kilometer weit entfernte Ziele tief im Hinterland des Gegners, als Seedrohnen gegen Schiffe, zur Aufklärung oder als fliegende Attrappen, um die Flugabwehr des Gegners zu überfordern.
Die Ukraine hat nach drei Jahren Krieg ein ganzes Drohnen-Ökosystem aufgebaut, das Entwicklung, Produktion und Ausbildung von Soldaten umfasst. Weder in Europa noch in den USA gibt es etwas Vergleichbares. Einzelne Hersteller wie Donaustahl aus Niederbayern produzieren mit „MAUS“ die erste FPV-Drohne aus einem Nato-Land – und exportieren ihr Produkt in die Ukraine. Die Bundeswehr darf sie aber, anders als chinesische Fabrikate von DJI, nicht beschaffen. Das Zulassungsverfahren in Deutschland ist für kleine Firmen zu kompliziert und teuer.
4. Beschaffung beschleunigen
Die ukrainische Armee muss sich in Echtzeit an neue Herausforderungen anpassen. Das erfordert nicht nur Innovationskraft von Rüstungsfirmen und Start-ups, sondern auch die Bereitschaft des Staates und der Armee, schnell auf Veränderungen zu reagieren und die Beschaffung entsprechend zu organisieren. Eine starre Beschaffungsbürokratie, die Jahre braucht, um sich für ein Projekt zu entscheiden und bei einem großen, unbeweglichen Rüstungskonzern zu bestellen, kann sich ein Land im Krieg nicht leisten.
In der Ukraine vergehen zwischen erster Erprobung und Indienststellung neuer Waffen häufig wenige Monate. Zwischen der ersten Erprobung und dem Aufbau des „Sky Fortress“-Systems, das russische Drohnen mit Tausenden landesweit platzierten Mikrofonen ortet, verging etwa ein Jahr.
Die europäischen Nato-Länder sollten ihre Beschaffung optimieren und vereinheitlichen, Aufträge an Rüstungsfirmen besser miteinander koordinieren und auch dem ukrainischen Rüstungssektor Zugang zu europäischen Aufträgen und Forschungsgeldern ermöglichen.
5. Eigene Massenproduktion starten
Die besten Hightech-Waffen sind nichts wert, wenn sie nicht massenhaft hergestellt werden – die Erfahrung machen nicht nur die Ukrainer, sondern auch die europäischen Nato-Länder, die die Ukraine mit eigens hergestellten Waffensystemen beliefern. Die Europäer konnten zwar in den vergangenen Kriegsjahren vor allem die Produktion von Artilleriemunition hochfahren. Doch mit komplexeren Waffensystemen gibt es Probleme, wie mit Luftabwehrraketen.
Europas Rüstungsfabriken wachsen laut einer Recherche der „Financial Times“ zwar dreimal so schnell wie vor Russlands Großinvasion. Der Output muss aber weiter drastisch steigen, um schrumpfende Arsenale auszugleichen und auf russische Aggression vorbereitet zu sein.
Zugleich ist das Ziel, die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren. Laut Forschungsinstitut SIPRI stammten in den vergangenen Jahren fast zwei Drittel der neuen Waffen in den EU-Ländern aus den USA. Das soll sich ändern. Die Bundeswehr soll laut „Politico“ im kommenden Jahr neue Rüstung im Wert von 83 Milliarden Euro beschaffen. Nur acht Prozent dieser Summe sind für US-Aufträge anberaumt. Der Rest soll an europäische Rüstungsfirmen gehen.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.