Jetzt wird ein Szenario Wirklichkeit, dass der Iran Jahre lang zu verhindern versucht hatte – der „Snapback“. Das automatische „Zurückschnappen“ aller früher geltenden Sanktionen ist der Notmechanismus, der 2015 in die Atomvereinbarung mit Teheran eingebaut wurde. Mit den entsprechenden Regelungen im sogenannten Joint Common Plan of Action oder JCPoA wollten Irans Vertragspartner USA, Russland und China sowie Deutschland, Frankreich und Großbritannien sicherstellen, dass der Iran Konsequenzen fürchten muss, wenn er gegen die Vereinbarung verstößt.
Nun wird dieser Mechanismus wirksam, nachdem ihn die drei europäischen Nationen, die E3, vor einem Monat ausgelöst hatten. Russland und China hatten am Freitag noch eine Sicherheitsrats-Resolution eingebracht, die den Snapback hätte stoppen können, doch erwartungsgemäß scheiterte sie am Veto der westlichen Staaten. Der Iran hatte noch mit Kooperationsangeboten in letzter Minute versucht, die neuerlichen Sanktionen abzuwenden. Doch ob Teheran wirklich noch an einer Einigung interessiert war, ist fraglich. Und was auf den Snapback folgt, ist vielleicht noch ungewisser.
Tatsächlich hielt sich der Iran schon seit 2019 nicht mehr in vollem Umfang an die Kontrollauflagen und Beschränkungen des JCPoA, nämlich seit Donald Trump 2018 in seiner ersten Präsidentschaft den Ausstieg der USA aus dem seiner Meinung nach zu laxen Vertrag erklärte. In der Folgezeit steigerte der Iran die Herstellung von angereichertem Uran, das sowohl zum Betrieb von Atomkraftwerken als auch bei höherem Anreicherungsgrad als Stoff für Nuklearwaffen dienen kann. Dabei überschritt er nicht nur die vorgeschriebenen Begrenzungen für die Mengen an Zentrifugen und den Vorrat an Uran, sondern auch die Grenze für die Anreicherung erheblich.
Statt der maximalen 3,67 Prozent reicherte das Land auf 60 Prozent, in einem angeblich versehentlichen Einzelfall sogar auf mehr als 86 Prozent an. Für den Bau einer Atombombe wird Uran üblicherweise auf 90 Prozent angereichert, aber 85 Prozent können schon genügen. Zuletzt verweigerte sich der Iran auch den Transparenzforderungen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. Damit war kaum noch sicherzustellen, dass Teheran nicht heimlich einen nuklearen Sprengsatz herstellt.
Im Sommer zerstörten Israel und die USA mehrere iranische Nuklearanlagen. Doch es ist unklar, was aus einem Vorrat von etwa 400 Kilo hochangereichertem Uran geworden ist, deren Verbleib vor den Angriffen noch bekannt war. Aufklärung in diesem Punkt gehörte neben Zugang zu den bombardierten Anlagen zu den wichtigsten Forderungen der IAEA und des Westens. Dass Teheran nicht bereit war, in vollem Umfang auf diese Forderungen einzugehen, ist ein Hauptgrund, warum Europäer und Amerikaner nicht bereit waren, den Snapback anzuhalten.
In den letzten Tagen haben iranische Unterhändler offenbar noch ein stärkeres Entgegenkommen angeboten. Nachdem sie ursprünglich nur einen Teil der Anlagen besichtigen lassen wollten, boten sie nun Zugang zu allen an. Zudem sollte es auch Informationen zum Verbleib des verschwundenen Uran-Vorrats geben. Doch es wäre kaum genug Zeit geblieben, um zu verifizieren, zu welchen Einblicken der Iran wirklich bereit ist und ob seine Angaben zutreffen. Wohl deshalb haben die E3 und Amerika einen Stopp des Snapback zu diesem späten Zeitpunkt abgelehnt.
Wäre der Iran wirklich zum Einlenken bereit, hätte er das auch früher signalisieren können. Der Westen versuche lediglich „das Streben nach konstruktiven Lösungen zu sabotieren“, sagte hingegen der russische Außenminister Sergej Lawrow. Sein deutscher Amtskollege Johann Wadephul machte allerdings deutlich, dass die E3 weiterhin offen für Verhandlungen mit dem Iran seien.
Welche Sanktionen treten jetzt in Kraft?
Die Sanktionen betreffen vor allem Nuklear- und Raketentechnik. Mit Wiederinkrafttreten der Sanktionen ist es jedem Mitgliedstaat der Vereinten Nationen verboten, den Export solcher Technologien an den Iran zuzulassen oder auch den Wissenstransfer in diesem Zusammenhang. Auch entsprechende Importe sind verboten. Untersagt sind auch Waffenlieferungen an den Iran. Weitere Sanktionen betreffen iranische Finanzinstitutionen und Geldtransfers an sie. Zudem werden die im Ausland vorgehaltenen Vermögenswerte iranischer Institutionen und Einzelpersonen beschlagnahmt. Ebenso können die Vermögen von nicht-iranischen Institutionen, Firmen und Personen beschlagnahmt werden, die gegen die Sanktionen verstoßen.
Die Regeln der Vereinten Nationen sehen vor, dass die Mitgliedstaaten die entsprechenden Sanktionen in nationales Recht umsetzen. Die USA haben eigene Sanktionen schon 2018 bei Trumps Ausstieg aus der Atomvereinbarung wieder in Kraft gesetzt. Obwohl Joe Bidens Demokraten den Ausstieg kritisiert hatten, behielt die Biden-Administration die Sanktionen bei, während sie mit Teheran verhandelte. Die Sanktionen der EU blieben hingegen ausgesetzt. Nun treten sie wieder in Kraft.
Welche Folgen haben die Sanktionen für den Iran?
Die iranische Wirtschaft leidet schon jetzt erheblich, obwohl bisher nur US-Sanktionen in Kraft waren. Die von offiziellen Stellen vorgelegten Daten gelten als geschönt. Doch selbst sie zeigen seit 2018 Rückgänge der Wirtschaftsleistung von mehreren Prozentpunkten. Aktuell soll das Wachstum bei drei Prozent liegen und du Arbeitslosenquote bei mehr als neun Prozent. Aber auch sie dürfte real höher sein. Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung ist bis in die Mittelschicht hinein sehr schwierig. Eine Inflation von mehr als 40 Prozent im Jahr macht die Waren im Land extrem teuer. Zudem sind die Banken des Landes infolge von Sanktionen weitgehend vom internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen. Das erschwert der Handel zusätzlich und ebenso finanzielle Unterstützung durch im Ausland lebende Verwandte.
All diese Probleme werden durch die Sanktionen erheblich verschärft. Der wirtschaftliche Druck, den die Sanktionen bis 2015 erzeugt hatten, war ein maßgeblicher Grund, warum der Iran dem Atomabkommen überhaupt zugestimmt hat. Allerdings wird die Wirkung der Sanktionen diesmal womöglich geringer ausfallen. Denn Russland und China lehnen die Wiedereinführung der Beschränkungen ab und könnten sie ignorieren. Schon heute ist China der größte Erdölabnehmer des ebenso von Sanktionen betroffenen Russland. Diese Rolle könnte Peking auch für den Iran übernehmen. Die wirtschaftliche Misere des Iran wird durch diese Exporte sicher nicht zu beheben sein. Der Druck auf die Führung wird hoch bleiben.
Die anhaltende Wirtschaftskrise im Land befeuerte die jüngste Protestwelle nach dem Tod einer jungen Frau in den Händen der Sittenpolizei 2022 zusätzlich. Streiks und Proteste gegen die wirtschaftliche Not kommen immer wieder vor. Deshalb können die Sanktionen die Kleriker-Herrschaft im Iran zusätzlich destabilisieren. Das könnte die iranische Führung wieder zum Einlenken bewegen. Allerdings hat sich das Regime in den letzten Jahren gewillt gezeigt, jeden Protest mit einem extremen Maß an Brutalität, mit tödlicher Gewalt gegen Demonstranten, systematischer Folter und sexualisierter Gewalt sowie massenhaften Hinrichtungen zu unterdrücken. Wenn sich die Hardliner im Machtapparat durchsetzen, könnte die Unterdrückung zunehmen und der Iran könnte einen anderen Kurs als den der Verhandlungen wählen.
Wie wird die iranische Führung reagieren?
Eine Verhandlungslösung bleibt denkbar. Sie muss aus westlicher Sicht umfassende Kontrolle und Mengenbeschränkungen und nach Forderungen der USA ein definitives Ende jeglicher Uran-Anreicherung im Land enthalten. Das JCPoA hatte diese im Rahmen bestimmter Grenzwerte noch zugelassen. Aber nach Vorstellung der Trump-Regierung soll der Iran zukünftig Atombrennstoff importieren, so wie fast alle Staaten, die Atomkraftwerke betreiben. Dafür müsste der Iran aber ein schmerzhaftes Zugeständnis machen, nämlich das selbsterklärte Recht auf Anreicherung aufgeben.
Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Iran einen anderen Weg einschlägt. Das Beispiel Nordkoreas – das den Iran bei Nuklear- und Raketentechnik eng begleitet – zeigt, dass eine Diktatur als nuklearer Paria-Staat gut überleben kann. Seit Nordkorea die Bombe besitzt, gab es keinen Versuch mehr, das Regime dort militärisch anzugreifen. Dieses Modell erfordert aber eine noch extremere Unterdrückung der Bevölkerung. Es ist ungewiss, ob das im Iran funktionieren könnte.
Noch ringen verschiedene Fraktionen im Machtapparat um Einfluss bei Revolutionsführer Ali Chamenei. Die pragmatischeren Mullahs wollen das Land wieder in die Weltwirtschaft integrieren und Beziehungen zu anderen Staaten der Region stärken, weil ihrer Meinung nach nur wirtschaftliche Prosperität das System retten kann. Eine andere Fraktion um die paramilitärischen Revolutionsgarden setzt auf nukleare Abschreckung und notfalls gewaltsame islamische Linientreue im Innern. Welche dieser Fraktionen sich durchsetzt, wird vermutlich erst klar, wenn der 86-jährige Chamenei stirbt und seine Nachfolge geklärt wird. Dann ist alles möglich – eine Befriedung des Nahen Ostens oder seine Nuklearisierung. Denn die Nachbarstaaten des Iran haben schon klargemacht, dass sie gleichziehen werden, wenn das Land Atomwaffen erlangt.
Sicher ist lediglich: Sollte Israel in Zukunft wieder die Gefahr feststellen, dass sich der Iran atomar bewaffnet, dann wird der jüdische Staat die Islamische Republik erneut bombardieren. Da der Iran jegliche Zusammenarbeit mit der IAEA eingestellt hat, wächst die Gefahr eines unbemerkten Ausbruchs – und damit die Nervosität bei Militärs überall in der Region.
Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.
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