Am 7. Oktober 2023 war Tamir Nimrodi 18 Jahre alt und Unteroffizier der israelischen Armee. Stationiert war er nahe dem Grenzübergang Erez, in unmittelbarer Nähe zum Gaza-Streifen. In den frühen Morgenstunden legte sich der junge Mann schlafen. Dann ertönten die Sirenen – Raketenalarm.
Um 6.45 Uhr schrieb Nimrodi seiner Mutter und fragte sie, wie es ihr gehe. 27 Minuten später war er in der Gewalt von Hamas-Terroristen, die den Stützpunkt überfielen. Gemeinsam mit den Soldaten Ron Sherman und Nik Baizer wurde er zum Ausgang des Stützpunkts geführt.
Es gibt ein Video von diesem Tag, die Hamas hat es selbst veröffentlicht. Es ist ein grausames Stück Selbstinszenierung. Tamir Nimrodi hält die Hände über den Kopf, der Blick ist verängstigt. Er trägt einen Schlafanzug, keine Schuhe und auch keine Brille – ohne die kann er kaum einen Meter weit sehen. Es war das einzige Lebenszeichen, das Nimrodis Eltern hatten.
Mehr als zwei Jahre lang kämpften sie für die Freilassung ihres Sohns; gemeinsam, obwohl sie eigentlich getrennt sind. Die Leichen von Ron Sherman und Nik Baizer hatte die israelische Armee bereits im Dezember 2023 in einem Tunnel der Hamas gefunden.
Alon und Herut Nimrodi waren mehrmals in Berlin, um sich bei deutschen Politikern für ihren Tamir, der auch deutscher Staatsbürger war, einzusetzen. Herut Nimrodi, die Mutter, berichtete Reportern noch Anfang Oktober, sie befinde sich seit zwei Jahren in einem Schockzustand. „Ich erinnere mich an nichts von meinem früheren Leben“, sagte sie. „Weiß nicht mehr, wie er lacht. Wie er mich Mutter ruft. Es ist alles leer.“ Seit dem 7. Oktober fühle sich alles an wie „ein langer, anstrengender Tag“. Was sagt man einer Mutter, die sich nicht mehr erinnert, wie ihr Sohn lacht?
Der Vater, Alon Nimrodi, erklärte Journalisten immer wieder, er würde alles aufs Spiel setzen, damit Tamir nach Hause kommt, auch wenn es nur eine Chance von 0,01 Prozent geben würde. Er erzählte von Tamirs Begeisterung fürs Reiten und Zeichnen, vom großen Herz seines Sohns. Er wollte sich den Sohn bewahren, den die Welt längst vergessen hat.
Meinem Kollegen Kevin Čulina berichtete Alon Nimrodi bereits im Januar 2024, sein Sohn habe auf der Militärbasis Bewohnern des Gaza-Streifens geholfen, wenn sie eine Arbeitsgenehmigung in Israel hatten. Nimrodi zeigte meinem Kollegen auch eine kleine Tafel, auf die sein Sohn drei Ziele für seine Zeit als Soldat geschrieben hatte. Sie erzählen mehr über ihn als jede militärische Akte: „So vielen Menschen helfen, wie ich kann. Eine große Gruppe guter Freunde finden. Niemanden verletzen.“
Als im Oktober dieses Jahres endlich erfolgreich ein weiterer Geisel-Deal verhandelt wurde, präsentierte die Hamas Listen von lebenden und getöteten Geiseln. Tamir Nimrodi stand auf keiner der Listen. Ob er noch lebt, war bis zuletzt unklar.
Nun ist Tamir Nimrodi nach Israel zurückgekehrt. Er ist tot. Die Hamas hatte dem Roten Kreuz am Dienstagabend vier Leichen übergeben, angeblich alle von israelischen Geiseln. Am Mittwoch gab die israelische Armee bekannt, drei Geiseln identifiziert zu haben, darunter auch Nimrodi. Die vierte Leiche ist die eines unbekannten Palästinensers.
Kurz vor der Bekanntgabe hatte die Armee die Familie von Tamir Nimrodi informiert. Es war die erste bestätigte Information über den Zustand seit der Entführung am 7. Oktober 2023. „Nach zwei Jahren des Wunschs nach einem anderen Ende, erhielten wir die schwierige Nachricht von der Identifizierung unseres geliebten Tamir“, teilte die Familie mit. „Wir erleben Momente des Schmerzes und der Zusammenkunft, aber wir werden die Familien der Geiseln nicht im Stich lassen, bis die letzte Geisel freigelassen ist.“
Berichte, die jede Vorstellungskraft sprengen
Erst dann, wenn auch die restlichen 19 ermordeten Geiseln zurück in Israel sind, kann in dem kleinen Land endlich der 8. Oktober beginnen. Der Tag, an dem die Wunden nicht mehr nur schreien, sondern heilen dürfen. Der Tag, an dem auch damit begonnen werden kann, das Versagen des israelischen Staats aufzuarbeiten, seine Bürger zu schützen. Die Frage, ob die Geiseln nicht viel früher hätten gerettet werden können, noch lebend. Und der Krieg in Gaza damit ebenfalls viel früher hätte enden können.
Israelische Medien berichten in diesen Tagen darüber, was die Freigelassenen ihren Angehörigen über die Geiselhaft erzählen. Es sind Geschichten von Hunger und Isolation, von Jahren ohne Licht und Zeit. Die Berichte sprengen jede Vorstellungskraft – und müssen dennoch erzählt werden.
Yosef-Haim Ohana, der im Alter von 23 Jahren vom Psytrance-Festival Nova entführt worden war, wurde nach der Unterzeichnung des Geisel-Deals nicht aus den Tunneln geholt, sondern mit sechs anderen Geiseln zusammengebracht und eine Treppe hinuntergeführt, immer weiter nach unten. „Sie steckten uns in eine Grube, die so klein war, dass sieben Männer nicht sitzen konnten“, erzählte er seinem Vater. „Es gab so wenig Sauerstoff, dass wir allein daran hätten sterben können.“
Die Mutter von Rom Braslavski, der bei dem Rave als Sicherheitsmann tätig war, berichtet, dass ihr Sohn in der Geiselhaft der Terrororganisation Palästinensisch-Islamischer Dschihad unter Druck gesetzt wurde, im Austausch gegen Essen zum Islam zu konvertieren. Braslavski habe das verweigert. Die Entführer versuchten demnach auch, ihn mit Lügen zu manipulieren. Der Iran habe Israel bombardiert, das Land sei fast zerstört, behaupteten sie – und auf dem Geiselplatz in Tel Aviv spreche niemand über ihn.
Avinatan Or, der ebenfalls vom Nova-Festival entführt worden war, wurde bis zu seiner Freilassung nach mehr als zwei Jahren allein festgehalten, davon ein Jahr in einem Käfig, in dem er nicht stehen konnte. Er begegnete in Gaza keiner einzigen anderen Geisel und verlor dort zwischen 30 und 40 Prozent seines Körpergewichts. Erst nach seiner Rückkehr erfuhr er, dass seine Partnerin Noa Argamani, mit der er zusammen entführt und die im Juni 2024 durch eine israelische Militäroperation befreit worden war, noch lebte und bereits seit 16 Monaten in Freiheit war.
Der deutsch-israelische Pianist Alon Ohel wurde in Ketten gehalten und ausgehungert. Auch Elkana Bohbot berichtete nach seiner Rückkehr, dass er die meiste Zeit angekettet in einem Tunnel verbrachte, wo er jegliches Zeit- und Raumgefühl verloren habe. Die Zwillingsbrüder Gali und Ziv Berman wurden getrennt und völlig von der Außenwelt abgeschnitten festgehalten.
Dem israelischen Fernsehsender N12 berichtete die Mutter von Matan Angrest, dass ihr Sohn von den Entführern psychologischem Terror ausgesetzt gewesen sei. „Sie behaupteten, dass die Israelis ihn aufgegeben hätten.“ Die Terroristen hätten ihn zudem mit der Behauptung belogen, dass seine Großeltern, die den Holocaust überlebt haben, gestorben seien. Erst in den letzten Tagen vor seiner Entlassung sei ihm viel zu essen angeboten worden.
Diese Schilderungen zeigen: Für die lebenden 20 Geiseln, die Montag nach über zwei Jahren endlich freigelassen worden waren, wird der Heilungsprozess vermutlich ein Leben lang dauern. Immerhin beginnt nun endlich die Rückkehr aus der Dunkelheit.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“. Im September erschien im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Einen Auszug können Sie hier lesen, das Vorwort von Robin Alexander hier.
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