In der von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) ausgelösten Kontroverse zu „Problemen im Stadtbild“ greift der Koalitionspartner SPD den Regierungschef scharf an. „Wir arbeiten in der Koalition hart daran, die wirklichen Probleme des Landes zu lösen“, sagt der innenpolitische Sprecher, Sebastian Fiedler, dieser Zeitung. „Auf Debattenbeiträge des Regierungschefs, die die Menschen nicht versöhnen und verbinden, sondern spalten und erzürnen, wollen wir wirklich verzichten. Danke für nichts, Herr Bundeskanzler!“

Merz hatte am 14. Oktober gesagt, dass man Versäumnisse in der Migrationspolitik korrigiere, aber „natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“ habe. Er verwies als geplante Lösung auf Rückführungen in „sehr großem Umfang“. Auf Nachfrage, was er genau meine, antwortete er: „Fragen Sie mal Ihre Töchter.“ SPD-Chef Lars Klingbeil sagte daraufhin: „Ich möchte in einem Land leben, bei dem nicht das Aussehen darüber entscheidet, ob man ins Stadtbild passt oder nicht.“ Merz‘ Ausführungen sind zur ernsthaften Belastungsprobe für die Koalition geworden.

Am vergangenen Mittwoch präzisierte der Bundeskanzler seine Äußerungen: „Probleme machen uns diejenigen, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, die nicht arbeiten und die sich auch nicht an unsere Regeln halten. Viele von ihnen bestimmen auch das öffentliche Bild unserer Städte.“ In der Bevölkerung findet er Zustimmung. Die Frage, ob er mit seiner Aussage recht habe, bejahten 63 Prozent der Befragten im ZDF-Politbarometer. Es gab aber auch in mehreren Städten Demonstrationen unter dem Motto „Wir sind das Stadtbild“.

Der Innenexperte der Grünen im Bundestag, Marcel Emmerich, sagt: „Von einem Kanzler darf man erwarten, dass er Themen ansprechen kann, ohne einen Teil der Bevölkerung damit auszugrenzen.“ Für Clara Bünger (Linke) ist die Instrumentalisierung von „Töchtern“ in diesem Kontext „blanker Rassismus“. Der innenpolitische Sprecher der AfD, Gottfried Curio, unterstellt Merz hingegen ein rhetorisches Täuschungsmanöver: „Nötig wäre eine wirklich effektive Unterbindung der fortgesetzten illegalen Einreise.“

Die Unionsfraktion stellt sich hinter den Regierungschef. „Merz spricht aus, was viele Menschen im Land empfinden. Sie erkennen sich in seinen Worten wieder“, sagt ihr innenpolitischer Sprecher, Alexander Throm (CDU). Der Vizechef der unionsnahen Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Heiko Teggatz, konstatiert: „Unser Städtebild hat sich gravierend verändert. Der Staat muss jetzt dringender denn je sein Schutzversprechen gegenüber den in Deutschland lebenden Menschen einlösen.“

„Subjektives Sicherheitsempfinden stärken“

Gefährliche und schwere Körperverletzungen auf Straßen, Wegen oder Plätzen haben laut Kriminalstatistik für 2024 seit 1999, also dem letzten Jahr vor Corona, um 22 Prozent zugenommen.„Es muss gelingen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in den Innenstädten und Ortskernen wohlfühlen“, fordert der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, André Berghegger. „Dazu gehört auch, das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen zu stärken.“ Viele Herausforderungen der Kommunen hätten allerdings auch mit ihrer prekären Finanzlage zu tun.

„Merz hat ausgesprochen, was viele Bürger denken, aber selten offen sagen“, sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos). Es gebe durchaus ein Problem im Stadtbild und dies hänge zusammen „mit dem Gefühl, dass Ordnung, Sicherheit und Regeln nicht mehr konsequent durchgesetzt werden“.

Der Landrat des NRW-Kreises Minden-Lübbecke Ali Dogan (SPD) sagt: „Das subjektive Sicherheitsgefühl ist deutlich schlechter geworden. Hierzu haben sicherlich Gruppen von jungen Männern, die erkennbar ohne Tagesstruktur sich im öffentlichen Raum aufhalten, beigetragen.“ In Dogans Landkreis liegt Bad Oeyenhausen, wo 2024 ein 20-Jähriger im Kurpark zu Tode geprügelt wurde. Haupttäter war ein syrischer Flüchtling. Trotzdem meint Dogan, dass man durch „Abschiebungen keine Verbesserungen im Stadtbild“ erzeuge. Die meisten seien dauerhaft hier lebende Menschen. Vielmehr brauche es mehr Geld für Prävention und die Strafverfolgung.

„Die Gruppen, die in der Wahrnehmung zurzeit Tag für Tag die Innenstädte prägen, brauchen Ausbildungs- und Arbeitsplätze“, erklärt der Oberbürgermeister von Schwäbisch Gmünd, Richard Arnold (CDU), und regt einen verpflichtenden Gemeinschaftsdienst an.

Korrespondent Philipp Woldin hat sich in seinem Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ (C. H. Beck), das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat, intensiv mit den Veränderungen im öffentlichen Raum auseinandergesetzt. Einige der Schilderungen im Text beruhen auf Recherchen für das Buch.

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