Der Taxifahrer steht rauchend neben den Gleisen und wartet auf Kundschaft. Neben ihm rauscht der Regionalexpress nach Berlin vorbei. Der Bahnhof von Fürstenwalde (Brandenburg) ist einer der ältesten Deutschlands. 1842 gebaut, ein schmuckloses Haus aus einer Zeit, als Züge noch Fortschritt bedeuteten.
Er drückt seine Zigarette aus und fängt an zu reden: Kriminalität am Bahnhof? Ja, da habe er schon was mitbekommen. Aber nicht hier – er verweist auf die Unterführung hinter dem Bahnhofsgebäude.
Dort unten riecht es nach kaltem Rauch und Bier. Das Licht flackert, die Wände sind von oben bis unten beschmiert. Wer hier hinuntergeht, hört seine eigenen Schritte zu laut. An der Seite liegt ein obdachloser Mann auf einer Isomatte und schläft.
Am Ausgang steht Maja O., 32, drahtig, groß gewachsen, seit fünf Jahren lebe sie in Fürstenwalde, sagt sie. Mit ihrem Mann sei sie aus Polen hierher gezogen, wegen seiner Arbeit. Mittlerweile meide sie den Bahnhof: „Ich habe immer Angst, wenn ich hier bin. Man hört zu viele Geschichten.“
Die 59-jährige Sabine B. sagt, sie kenne den Bahnhof noch aus DDR-Zeiten. „Früher war es hier schön“, sagt sie. „Heute nur noch Müll und Graffiti.“ Seit 2015, seit viele Flüchtlinge gekommen sind, habe sich alles verändert. Einer Bekannten sei in der Unterführung die Handtasche gestohlen worden. „Nachts traue ich mich hier nicht mehr lang.“
Beim Hinaustreten fällt der 24-Stunden-Kiosk neben dem Bahnhof ins Auge. Chris Gretzschel erzählt, er stehe jeden Tag hier und trinke sein Feierabendbier. Er arbeite als Anlagenfahrer im örtlichen Reifenwerk, sei in Fürstenwalde aufgewachsen. „Mit 18 bin ich dann schnell nach Berlin gezogen. Ich habe es nicht mehr ausgehalten hier.“ Mit 32 sei er zurückgekommen, „wegen meiner Eltern“, sagt der 46-Jährige. „Alle Freunde von früher sind weggezogen und nie wiedergekommen.“
Er zeigt auf die Unterführung. „In Fürstenwalde herrscht gerade ein offener Bandenkrieg. Die alteingesessenen Kosovo-Albaner müssen sich gegen eine Vielzahl an Syrern behaupten. Die Syrer wollen die Stadt übernehmen.“ Dann hebt er die Bierflasche, als wolle er sich für den Satz entschuldigen. „Ich gebe nicht den Ausländern die Schuld“, sagt er leiser. „Die Deutschen haben sich nicht genug gekümmert.“ Er arbeite mit vielen Syrern im Werk. Männer ohne Ausbildung, ohne Deutsch-Kenntnisse. „Einer wusste nicht, was eine Schere ist“, sagt er. „Es gibt kaum Sprachkurse, das macht die Integration schwer.“
Neben ihm steht Arne Bräunlich, 54. Früher seien er und Gretzschel Kollegen gewesen, jetzt sei er arbeitslos. Aus Gewohnheit träfen sie sich hier manchmal zum Biertrinken. „Nachts kannste hier am Bahnhof nicht rumlaufen“, erzählt Bräunlich. „Mehrere Gruppen von Flüchtlingen stehen hier rum und pöbeln Leute an.“
Bräunlich erzählt, er sei früher Bundeswehr-Soldat gewesen. Wenn er über die aktuelle Lage in Fürstenwalde spricht, wird er schnell emotional. „Merz hat schon recht mit seiner Stadtbild-Aussage. Am schlimmsten ist der Umgang mit Frauen von den Jungs. Da fehlt jeglicher Respekt.“ Kanzler Friedrich Merz (CDU) hatte in der vergangenen Woche im Migrationskontext von einem „Problem“ im „Stadtbild“ gesprochen. Am Montag bekräftigte er diese Aussage, indem er auf Erfahrungen junger Frauen anspielte („... dann fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte“).
Doch Fürstenwalde habe auch schon schlimmere Zeiten überstanden. Er erzählt von den 90ern, von Schlägereien, Springerstiefeln und Glatzen. „Damals war die Gewalt schlimmer als heute“, sagt er, „aber die Angst war dieselbe.“ Er trinkt aus, nickt Richtung Unterführung. „Das hier ist auf jeden Fall ein Angstraum für viele Menschen.“
Bürgermeister spricht von „gefühlter Unsicherheit“
Wer mit der Polizei Brandenburg spricht, hört andere Töne als am Fürstenwalder Kiosk. Stadtweit gehen manche Deliktzahlen demnach zurück. Im Jahr 2023 registrierte die Polizei in Fürstenwalde 28 Fälle von Raub oder räuberischer Erpressung, 2024 waren es 20. Auch die Sachbeschädigungen gingen zurück – von 359 auf 331.
Allerdings: Die Zahl der Körperverletzungen stieg im selben Zeitraum von 329 auf 375. Und am Bahnhof selbst verschärfte sich die Lage: 197 Einsätze gab es hier im Jahr 2023, 256 im Jahr darauf. Dennoch will die Polizei nicht von einem neuen Kriminalitätsschwerpunkt dort sprechen. Und nicht jeder Einsatz ende mit einem Verfahren, wie der Pressesprecher der Polizei Brandenburg betont.
Und der Bürgermeister von Fürstenwalde, Matthias Rudolph (Freie Wähler), sprach im August gegenüber der „Märkischen Onlinezeitung“ von einer „gefühlten Unsicherheit“ in Bezug auf den Bahnhof. Mit Zahlen und Fakten lasse sich diese nicht belegen, so Rudolph. Trotzdem müsse man Orte wie die angrenzende Eisenbahnstraße im Blick behalten, so Rudolph. Eine Videoüberwachung wäre eine Möglichkeit, aber es fehle an Personal. Die Stadt und die Bahn arbeiteten aktuell an einer gemeinsamen Anlaufstelle im Bahnhofsgebäude – als sichtbares Zeichen von Präsenz.
Dass eine solche Stelle sinnvoll sein könnte, zeigt der Abend des 18. August 2025. An diesem Abend rückten mehrere Streifenwagen zum Bahnhof Fürstenwalde aus. Passanten hatten einen Mann mit einem Messer gemeldet, der auf dem Bahnsteig randaliere. Als die Beamten eintrafen, war die Lage unübersichtlich: Der Tatverdächtige, ein 27-jähriger Mann aus Kamerun, lag bereits verletzt am Boden. Er steht im Verdacht, zuvor in einem nahegelegenen Laden gestohlen und den Inhaber mit seinem Messer verletzt zu haben. Kurz darauf tauchte im Internet ein Video auf, aufgenommen am Bahnhof. Es zeigt, wie mehrere Männer auf den Verdächtigen einschlagen, einer von ihnen mit einem Baseballschläger. Der Mann wehrte sich, stolperte, versuchte zu fliehen. Passanten liefen vorbei.
Ob die Schläge infolge des Versuchs erfolgten, ihn festzusetzen, oder ein Akt der Selbstjustiz waren, ist Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Die Polizei spricht von einem „komplexen Geschehen mit mehreren Beteiligten“. Der Kameruner und der Ladenbesitzer wurden verletzt ins Krankenhaus gebracht. Der Tatverdächtige war vor den Vorfällen in Fürstenwalde wenige Stunden zuvor bereits in Frankfurt (Oder) aufgefallen. Dort soll er in einer Straßenbahn laut Musik gehört und Passagiere angegriffen haben, die ihn zum Leisermachen aufgefordert haben sollen. Dabei habe er drei Menschen leicht verletzt. Die Polizei nahm den Kameruner vorübergehend fest und leitete ein Ermittlungsverfahren ein.
Das Unbehagen in der Bevölkerung von Fürstenwalde ist wegen solcher Vorfälle groß. Orte wie die Unterführung am Bahnhof, sagt Christian Kromberg, Vorsitzender des Deutschen Forums für urbane Sicherheit, zeigten, wie verletzlich öffentlicher Raum sein kann. Er nennt sie „Zumutungen des öffentlichen Raums“ – Orte, an denen man Fremdheit, Armut oder Unordnung aushalten muss, weil sie Teil des Zusammenlebens sind.
Selbst wenn die Situation statistisch sicherer werde, ändere das wenig am Gefühl vieler Menschen, so Kromberg. „Wir leben in einer Zeit der Wahrnehmung, nicht der Wahrheit“, sagt er gegenüber WELT. Angst entstehe nicht aus Zahlen, sondern aus Bildern – aus Dunkelheit, Graffiti, Lärm, Müll. „Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sich niemand kümmert, dann wird der Ort selbst zur Bedrohung“, sagt er. Wo Licht fehle und niemand sichtbar Verantwortung trage, wachse das Misstrauen. Sicherheit, sagt er, beginne nicht beim Polizeieinsatz, sondern im Städtebau.
Vor und hinter dem Bahnhof soll sich bald vieles verändern. Die Stadt Fürstenwalde will bauen und aufräumen. An der direkt angrenzenden Eisenbahnstraße 118, derzeit eine Brachfläche, soll ein neues Quartier entstehen. Die Stadt hat das Grundstück gekauft, ein städtebaulicher Wettbewerb ist geplant. Auch die Bahn will umbauen: neue Böden, Anzeigen, Wartehäuschen, ein Fahrradparkhaus. Ab 2026 sollen die Bagger rollen.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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