„Das hier ist das Gegenteil von grünem Kernland“, sagt Moritz Heuberger von den Grünen zur Begrüßung in Berlin-Lichtenrade. Das ist ein nach dem Bundestagswahl-Ergebnis schwarz-blauer Zipfel im Süden Berlins mit Mehrfamilienhäusern, Leerstand, stattlichen Anwesen, an einem Gartenzaun ein Schild: „Ein Haus ohne einen Dackel ist nur ein Haus.“

Der 34-jährige Heuberger vertritt die Menschen hier als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter. Den Ausschlag dafür gaben jene Wähler, die im innenstädtischen Teil seines Wahlkreises Tempelhof-Schöneberg wohnen. Im Kreis, der vom „Kaufhaus des Westens“ bis zur Grenze zu Brandenburg reicht, schlug Heuberger die CDU mit nur 0,1 Prozentpunkten Vorsprung. Der Wahlkreis war vorher nie grün, sondern erst Hochburg der Sozialdemokraten, dann der CDU; 2021 hatte ihn der SPD-Promi Kevin Kühnert zurückerobert.

Heuberger sagt: „Vor dem Wahlabend hatte ich schon meinen Arbeits-Laptop auf den neusten Aktualisierungsstand gebracht; ich hatte eigentlich damit gerechnet, am Montag nach der Wahl in meinem alten Job weiterzuarbeiten.“ Sein Listenplatz war zu schlecht für einen Sprung in den Bundestag; der promovierte Verwaltungswissenschaftler wäre ohne den unwahrscheinlichen Direkt-Sieg auf seinen Referentenplatz im Bundesinnenministerium zurückgekehrt. Dort war er für die Umsetzung der eIDAS-Verordnung zuständig, es geht um eine sogenannte digitale Brieftasche für EU-Bürger. Die ist wichtig für die Verwaltungsdigitalisierung, aber unbekannt – so wie Heuberger.

Als Abgeordneter wird er selbst vorstellig bei den 350.000 Einwohnern seines Wahlkreises, wenn es ihm möglich ist. In der Regel freitags zieht Heuberger dazu am späten Nachmittag mit einem Mitarbeiter durch die Straßen. An diesem Tag ist die Prinzessinnenstraße dabei; zur Dokumentation fürs Büro macht er ein Selfie vor dem Straßenschild.

In seinem Bundestagsbüro hängt eine Karte mit den Straßenzügen, die er schon besucht hat; viele Haustüren hat er noch vor sich. Wer nicht zu Hause ist, bekommt einen Brief. „Liebe Nachbarin, lieber Nachbar, ich bin Dr. Moritz Heuberger, Ihr direkt gewählter Abgeordneter“, beginnt das Schreiben. Es folgt eine Einladung in seine Sprechstunde.

Was können die Grünen lernen von ihrem Abgeordneten Heuberger und seinem Sieg? Seine Partei gewann bei der Bundestagswahl nur drei neue Wahlkreise bundeweit direkt hinzu, verlor aber sieben; Tempelhof-Schöneberg ist der größte der drei neuen. Heuberger selbst und auch Beobachter des Wahlkampfs sagen: Er habe im Wahlkampf, so wie jetzt danach, vor allem auf Präsenz, das Unter-die-Leute-Gehen gesetzt. Wie die AfD Dauerwahlkampf macht auf den Straßen im Land und dadurch Menschen gewinnt, ist bekannt. Die CDU spricht neuerdings von „weißen Flecken“ und meint damit mangelnde Präsenz, Ansprechbarkeit – besonders im Osten.

Heuberger ist dem sozusagen ein paar Schritte voraus. An den Haustüren angekommen, muss er oft erklären, was er überhaupt will, also: sich vorstellen, erfahren, was konkrete Anliegen der Menschen sein könnten. Das verwundert viele an diesem Nachmittag, eine fragt ihn: „Sind denn irgendwelche Wahlen?“

„Die Leute sind es offenbar gewohnt, dass Politiker nur vorbeikommen, wenn Wahlkampf ist – und das ist ein Problem, an dem die Politik, wir Politiker, selbst Schuld tragen“, sagt Heuberger auf dem Weg von einem Gartentor zum nächsten.

Dabei trägt Heuberger weißes Hemd und Barbour-Jacke. Eine der vielen älteren Damen, die statt der Tür ihr Fenster öffnen und von dort mit dem Abgeordneten sprechen, ruft herunter: „Was sind Sie? CDU?“ Es komme auch vor, hatte Heuberger vorher erzählt, dass man ihn für einen AfD-Mann hält. Er führt das auf seinen Flyer zurück, da sei etwas beim Druck verunglückt: „Leider mehr Blau als Türkis, wie es eigentlich geplant war“, sagt Heuberger.

Gegenüber der Dame stellt er klar: „Ich bin von den Grünen“, ruft er in Richtung ihres Fensters im zweiten Stock, und dass es „ganz knapp“ gewesen sei gegen die CDU. „Das ist ein Fortschritt!“, ruft die Frau zurück. Heuberger lacht. Viele der älteren Damen und Herren, die Heuberger antrifft, scheinen sich zu freuen über das Gesprächsangebot. Persönliche Anliegen haben sie aber selten, sagen sinngemäß oft: Uns geht’s gut, es gibt bestimmt Andere, die Ihre Hilfe brauchen.

„Was mir wirklich am Herzen liegt“, sagt eine ältere Dame Heuberger, sei, dass sie ihre 100-Quadratmeter-Wohnung gerne freimachen würde für eine junge Familie. Nur sei es viel zu schwer, eine bezahlbare kleinere Wohnung zu finden, dazu noch im Erdgeschoss oder mit Aufzug. Gut zu Fuß sei sie nicht mehr. „Aber soll ich jetzt immer meckern! Ist doch alles auf hohem Niveau!“, sagt sie dann. Unterwegs in einem unaufgeregten Teil der Republik in Herbstfarben.

„Sehr große Verantwortung gegenüber jedem Einzelnen“

Nur ein junger Familienvater vor einer Doppelhaushälfte mit Garten scheint zum Ausdruck bringen zu wollen, dass er von Heubergers Partei nichts hält. Die Grünen? „Muss man sich leisten können“, sagt der Mann, und: „Wenn der Kühlschrank leer ist, ist ‚Grün‘ oder Natur zweitrangig. Und ich glaube, darauf werden wir uns momentan hinbewegen“, sagt er auch.

Größere Anfeindungen habe er nie erlebt unterwegs, sagt Heuberger danach – nur einmal einen Mann ohne Hose. Grundsätzlich mache ihm das Tür-zu-Tür-Format „großen Spaß. Es ist sehr bereichernd, mit so vielen unterschiedlichen Menschen außerhalb der eigenen Blase ins Gespräch zu kommen“. Außerdem verspüre er, der so überraschend in dieses Amt kam, „sehr große Verantwortung gegenüber jedem Einzelnen der 350.000 Menschen im Wahlkreis, ganz egal, ob sie mich gewählt haben oder nicht“. Einmal vergleicht er sein Verantwortungsgefühl ihnen gegenüber mit jenem, das man gegenüber Familie oder Freunden hat.

Wie findet er dann, dass die Ampel unter Grünen-Beteiligung die direkt gewählten Abgeordneten geschwächt hat? Seit 2025 hat mancher Wahlkreis keinen Direktkandidaten im Bundestag. Das war der Preis, den die Koalition im Rahmen einer Wahlrechtsreform für die Verkleinerung des Bundestags zu zahlen bereit war. „Sollte das Wahlrecht erneut reformiert werden, wie es sich Schwarz-Rot vorgenommen hat, fände ich besser, wenn es im Zweifel weniger, größere Bundestagswahlkreise gäbe und dafür alle direkt gewählten Kandidaten ins Parlament kämen“, sagt Heuberger.

Während der Ampel-Zeit war Heuberger neben seinem Job grüner Lokalpolitiker in Berlin; zur Partei kam er in seinem Geburtsland Baden-Württemberg, in Ministerpräsident Winfried Kretschmanns Regierungszeit war er dort bei der Grünen Jugend aktiv. In einem Parteilager, als Linker oder Realo, verorte er sich nicht.

Über Heuberger Zeit als Co-Sprecher der Grünen Jugend im Bund vor acht Jahren schrieb die „taz“: Er sei ein vorsichtiger Mensch, kritisiere die Mutterpartei „höchstens in homöopathischen Dosen“, stelle sich trotz schlechter Werte hinter die Spitzenkandidaten. Schlagzeilen machte er damals kaum, einmal ging es um eine Überlegung, die Zahl christlicher Feiertage zu reduzieren.

Nun, im Bundestag, ist Heuberger Berichterstatter seiner Partei für „Staatsmodernisierung“. Manchmal hat an diesen Nachmittag im Bürgergespräch Gelegenheit, auszuführen, was das für ihn bedeutet: „Alles muss schneller laufen: weniger Papierkram für Bürger, aber auch für Unternehmen. Und das hat auch was mit dem Vertrauen in den Staat zu tun, wo die Leute Steuern zahlen und zu Recht etwas sehen wollen im Gegenzug“, sagt er dann etwa.

Wenn die Bürger in Lichtenrade konkrete Anliegen haben, dann geht es oft genau darum: einen beim Tempo versagenden Staat, dazu zählen sie nahe Verkehrsprojekte auf, Staus, gefährliche Radwege, fehlende Ladesäulen. Das Wort „Katastrophe“ fällt dann manchmal – etwa, als ein mittelalter Mann am Gartenzaun in einen Redefluss kommt und Baustellen auf seinen Arbeitswegen auflistet.

Er moniert auch: „Was aus der Bahnhofsstraße geworden ist, ist schon echt traurig, muss ich sagen. Zumal auch leider die kleinen Läden nach und nach verschwinden.“ Stattdessen: immer mehr Dönerbuden und Nagelstudios. „Ich hab nichts gegen Döner, ich esse auch Döner“, sagt er. Nur sei es schade, gibt er zu verstehen, dass sein Kiez dadurch so verwechselbar werde.

Aber „gut“, schließt er: „Dagegen werden wir uns nicht wehren, das sind auch alles Kleinstunternehmer, die wollen auch Geld verdienen. Das ist auch in Ordnung. Aber ein bisschen mehr Vielfalt hätte ich mir schon gewünscht.“

Heuberger antwortet, wie zur Aufmunterung: Immerhin, so habe er gehört, solle ja da, wo mal der Woolworth war, jetzt ein Rewe reinkommen: „Ein bisschen Aufwertung“ wenigstens.

Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.