Der Hamas-Anführer Yahya Sinwar, Planer der genozidalen Vernichtungsaktion vom 7. Oktober 2023, kannte die israelische Gesellschaft gut. In israelischen Gefängnissen hatte er 24 Jahre lang Zeit, sich intensiv mit ihr auseinanderzusetzen. Im Knast lernte er Hebräisch, las die Tora, Bücher über israelische Ministerpräsidenten und die Grundlagen jüdischen Lebens. In einem Studium, das er im Gefängnis absolvierte, belegte er Kurse, in denen der Aufstieg der Nationalsozialisten, die Durchführung des Holocausts und die Geschichte des Zionismus behandelt wurden.

Als Sinwar im Jahr 2011 gemeinsam mit 1026 anderen palästinensischen Gefangenen im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit freigelassen wurde, erklärte er, er habe im Gefängnis den Feind studiert.

Der Terrorist wusste genau, welche Bedeutung die Schoa für die israelische Gesellschaft hat. Vieles spricht dafür, dass die Hamas am 7. Oktober mittels Bildsprache, Sadismus und Entmenschlichung bewusst Erinnerungen an die Judenvernichtung durch die Deutschen hervorrufen wollte. Ziel war nicht nur die Ermordung möglichst vieler Juden, sondern auch die Erinnerung an die historische Verletzlichkeit, die Instrumentalisierung und Wiederholung von Traumata.

Der 7. Oktober sollte „der israelischen Öffentlichkeit und Jüdinnen und Juden in der Diaspora ganz explizit und unmittelbar vermitteln, dass ein neuer Holocaust jederzeit stattfinden kann“, schreibt der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann in seinem soeben im Neofelis-Verlag erschienenen Essay „Gewalt als Bild“.

Ein zentraler Teil des Massakers fand beim Nova-Festival statt. Die Hamas ermordete dort 378 Menschen und verschleppte 44 in den Gaza-Streifen. Zahlreiche Überlebende berichteten im Anschluss, sie hätten sich neben oder unter Leichen gelegt und tot gestellt. Solche Zeugnisse sind auch von Holocaust-Überlebenden bekannt. Viele fühlten sich daran erinnert.

In Berlin ist derzeit eine beeindruckende Ausstellung über das Nova-Massaker zu sehen. Die Organisatoren des Psytrance-Raves zeigen persönliche Berichte, Videos von Opfern und Tätern, ausgebrannte Autos, sowie zurückgelassene Gegenstände der Feiernden. Auch ein Tisch mit Schuhen ist darunter.

Als ich die zusammengestellten Kleidungsstücke in der Ausstellung erstmals sah, war ich zunächst irritiert. Ich kenne solche Schuhsammlungen von Holocaust-Gedenkstätten: dem Museum Auschwitz-Birkenau, Yad Vashem in Jerusalem, dem Mahnmal „Schuhe am Donauufer“ in Budapest. Ist ein solcher Vergleich zu den beispiellosen Verbrechen der Deutschen und ihrer Helfer im Nationalsozialismus wirklich legitim?

Ich denke an die Verbrennung ganzer Familien bei lebendigem Leibe – aus einer antisemitischen Ideologie heraus, nach der jeder Jude schuldig sei und vernichtet werden müsse. An die Verteidigung der nationalsozialistischen Massenvernichtung als „göttliche Bestrafung“ durch islamistische Vordenker. An islamistische Terroristen, die Auschwitz als Ansporn sehen. An die Muslimbruderschaft, die in den 1930er-Jahren mit dem NS-Regime zusammenarbeitete. An die Charta der Hamas aus dem Jahr 1988, in der Juden ähnlich wie im „Stürmer“ zum globalen Feind erklärt werden.

Wurde am 7. Oktober also der kategorische Imperativ negiert, „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“, den Hitler den Menschen laut Theodor W. Adorno „aufgezwungen“ hat? Ist am 7. Oktober Ähnliches geschehen?

„Wenn auch die Kluft zwischen dem Massaker und dem beispiellosen Verbrechen Auschwitz unüberbrückbar bleibt, gibt es Ähnlichkeiten im Detail“, schreibt der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel in einer lesenswerten Analyse für das Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien. So erinnere die „Mordbesessenheit“ der Hamas an den Fanatismus der Nazis; ebenso ähnle das Gefühl absoluter Hilfslosigkeit bei den Opfern des 7. Oktober der Hilfslosigkeit der Schoa-Opfer. „Allerdings konnten die einen im Gegensatz zu den anderen auf Rettung durch israelische Streitkräfte hoffen – ein wesentlicher Unterschied, der nochmals die Bedeutung des jüdischen Staates in Erinnerung ruft.“

Dass der „erneute Massenmord an Jüdinnen und Juden nicht verhindert werden konnte“, zeuge allerdings auch „von einem Versagen der israelischen Sicherheitsapparate und der westlichen Welt“.

Rationalisierung eines Massakers

Für das Literaturmagazin „Berlin Review“ hat der Journalist Hanno Hauenstein die Nova-Ausstellung rezensiert. Vom „absichtsvollen Spiel mit der Ikonografie des Holocaust durch die Hamas“, wie es im erwähnten Buch von Tobias Ebbrecht-Hartmann heißt, ist in Hauensteins Text nichts zu lesen. Anhand des Tischs mit den Schuhen schreibt er allein den Ausstellungsmachern zu, den Schmerz der Nova-Opfer „in die vertraute Bildsprache der Schoa“ zu überführen.

„Wer den Holocaust ernst nimmt, so die implizite Botschaft, muss den 7. Oktober als moralische Warnung begreifen“, schreibt der Autor. „Und Kritik an Israels Reaktion in Gaza als Sakrileg? Letzteres wird nicht gesagt, schwingt aber mit.“ An mehreren weiteren Stellen des Texts beschwert sich Hauenstein, dass der Krieg in Gaza in der Ausstellung über die Ermordung und Entführung von Partybesuchern nicht thematisiert werde. „Die Ausstellung zeigt die Opfer des 7. Oktober als wehrlose Jüdinnen und Juden und Opfer eines antisemitischen Pogroms“, schreibt er.

Sind sie das etwa nicht? Der Text geht wie folgt weiter: „Ausgeblendet bleiben die politischen und militärischen Zusammenhänge, die Vorgeschichte der Besatzung – und, natürlich: die Folgen.“

Und er klagt: „Von Gaza und allem, was vor oder nach Oktober 23 dort geschah, findet sich hier keine Spur. Es wirkt, als habe das Festival in einem Vakuum existiert, außerhalb weltlicher Parameter wie Geschichte und Geografie. (...) Gaza kommt schlichtweg nicht vor.“

Den Judenhass der Hamas erwähnt der „Berlin Review“-Autor nicht, als habe dieser mit dem Massaker nichts zu tun. Stattdessen macht er implizit Israels Politik für das Grauen verantwortlich und rationalisiert dieses dadurch. Damit setzt er sich auch über einen entscheidenden Befund aus der Antisemitismus-Forschung hinweg. Antisemitismus ist eine Projektion, die keiner Erfahrung bedarf. Mit dem realen Verhalten von Juden hat Judenhass nichts zu tun. Für antisemitische Vernichtungsaktionen gibt es keine rationalen Gründe.

Bemerkenswert ist auch, dass Hauenstein die Zahl der Todesopfer des Nova-Massakers mit „344 Zivilist:innen“ angibt. Die 34 israelischen Sicherheitskräfte, die bei dem Festival von Hamas-Terroristen ermordet wurden, sind ihm offensichtlich keine Rede wert. Unterschlagen werden 16 Soldaten – von denen zwölf nicht im Dienst, sondern zum Tanzen beim Festival waren –, 16 Polizisten – von denen 15 im Kampf gegen die Angreifer getötet wurden – und zwei Geheimdienstagenten, von denen einer im Einsatz und einer zum Feiern vor Ort war.

Etwa der 22-jährige Aner Shapira hatte gemeinsam mit einem Freund das Festival besucht. Später suchte er in einem Bunker Schutz und rettete dort mindestens sieben Menschen das Leben, weil er mehrere Sprenggranaten der Hamas zurückwarf. Zählt er etwa nicht als erwähnenswertes Todesopfer, weil er Soldat war?

Hauensteins Text offenbart ein zynisches Prinzip: Bevor wir euch betrauern, müssen wir erklären, was ihr falsch gemacht habt.

Dies ist die 28. Ausgabe der Kolumne „Gegenrede“ des Politikredakteurs Frederik Schindler, die zweiwöchentlich erscheint. Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erschien im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke.

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