Dick Cheney – wer hat ihn vor einem Vierteljahrhundert nicht gekannt? Er war als George W. Bushs Vizepräsident wahlweise die Nemesis aller Tyrannen und Terroristen oder das Gesicht des leichtfertigen, leichtsinnigen amerikanischen Imperialismus, je nach Sichtweise, in den USA wie in der ganzen Welt. Cheney galt als das Hirn hinter Bush. Dieser wurde zwar als guter Wahlkämpfer respektiert, aber nicht als Weltmachtstratege angesehen – im Gegensatz zu seinem fünf Jahre älteren, 1941 geborenen Vizepräsidenten.
Cheney koordinierte am 11. September 2001 im Tiefbunker des Weißen Hauses die Reaktion der US-Regierung auf den Terrorangriff von al-Qaida in New York und Washington. Präsident Bush irrte in der Air Force One, aus Florida kommend, durch den amerikanischen Luftraum.
Vor 25 Jahren hatte Cheney den „War on Terror“ erfunden. Er hat den Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein nahezu im Alleingang betrieben, der zweite Irak-Krieg war maßgeblich sein Werk. Die ergebnislose Suche nach irakischen Atomwaffen, die in den Augen seiner Gegner von vornherein unsinnige und völkerrechtlich illegale Militärintervention mitsamt dem Regimewechsel und dem jahrelangen irakischen Bürgerkrieg – das alles trug zwar auch die Handschrift Bushs und des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld. Aber Cheney wurde als der Kopf dieser Politik betrachtet.
Es gab damals eine Karikatur: Cheney sitzt als Rentner auf einer Parkbank, zeichnet mit dem Spazierstock Kringel in den Sand und sagt zu den pickenden Tauben vor ihm: „Und Saddam hatte doch Atomwaffen!“
Natürlich hatte er sie, zumindest die fertigen Blaupausen, davon war und blieb Cheney ehern überzeugt, und wäre nicht Joe Biden, sondern er selbst US-Präsident gewesen, als das Assad-Regime von den Syrern davongejagt wurde – er hätte umgehend sämtliche syrischen Militärbasen bis auf den letzten Keller und Ziegelstein umgraben lassen, diese Militärbasen, zu denen kurz vor dem amerikanisch-britischen Einmarsch lange irakische Lkw-Kolonnen aufgebrochen waren.
Gerade ihr Deutschen, so bekam man damals von seinen loyalen Mitstreitern zu hören, habt es nötig, euch über uns lustig zu machen. Wie war das denn damals in der Weimarer Republik, als den Deutschen die Herstellung bestimmter Waffen durch einen Friedensvertrag verboten worden war, und die Deutschen die Pflicht hatten, einer alliierten Kontrollkommission die Erfüllung dieser Bestimmungen lückenlos nachzuweisen – so wie Saddam nach dem ersten, von Bagdad begonnenen Irak-Krieg einer UN-Kommission lückenlos das irakische Waffenpotenzial hätte offenlegen sollen?
In den deutschen Rüstungswerken waren die zuständigen Fachleute zufälligerweise krank, wenn die alliierten Inspekteure auftauchten, die Schlüssel zu Tresoren fehlten oder irgendetwas anderes verhinderte gerade eine Inspektion.
Schließlich gaben die Alliierten den Deutschen den ersehnten Persilschein – Deutschland testete offenbar keine Chemiewaffen, baute keine Panzer, entwarf keine Flugzeuge. Zwei Jahre später deckte die „Weltbühne“ auf, wo die Reichswehr das alles doch heimlich testete – in der Sowjetunion, seit Jahren, beim ideologischen Erzfeind der Republik.
Bei diesem Thema wurden Cheneys Leute richtig böse: Ausgerechnet ihr Deutschen wollt uns weismachen, Saddam werde niemals mit dem Erzfeind Iran oder dem Erzrivalen Assad kooperieren, um einen UN-Waffenstillstand zu hintertreiben und die Weltorganisation der Lächerlichkeit preiszugeben?
Cheneys politischer Glaubenssatz
Als dann noch Gerüchte oder Berichte die Runde machten, Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden habe sich kurz vor dem Terrorangriff auf Amerika mit pakistanischen Atomwissenschaftlern getroffen, formulierte Cheney seinen politischen Glaubenssatz: Selbst wenn es nur zu einem einzigen Prozentpunkt wahrscheinlich ist, dass diese Berichte stimmen, muss man angesichts der Entschlossenheit al-Qaidas zu 100 Prozent davon ausgehen, dass die Terroristen eine Atomwaffe sofort einsetzen, würden sie je einer habhaft werden.
Das sollte für Cheney ab sofort Basis und Ausgangspunkt jeder amerikanischen Militärstrategie sein, und Saddam, der seit 1992 jedes Jahr Vertreter aller islamistischen Extremistengruppen in Bagdad zu einem Treffen versammelt habe, gehöre sofort gestürzt. Denn wenn der Islamismus, und sei es in Gestalt dieses zum Islam gewendeten einstigen säkularen Diktators, erst einmal ein atomar bewaffnetes Kalifat errichtet habe, „was werden dann wohl eure islamischen Minderheiten machen?“ – auch das bekam man damals zu hören.
Die Schockwirkung des 11. Septembers war bei Cheney größer als bei anderen Regierungsmitgliedern. Denn er war während des ersten Irak-Kriegs, als Saddam im August 1990 Kuwait annektierte und danach Saudi-Arabien und Israel mit Raketen beschoss, US-Verteidigungsminister.
Als solcher war er sehr skeptisch gegenüber der Absicht seines damaligen Präsidenten George H.W. Bush, Saddam umgehend militärisch in die Schranken zu weisen. Amerikanische Soldaten auf arabischem Boden zu stationieren und kämpfen zu lassen – das erfordere eine langwierige, ausgefeilte Diplomatie. Mehrere Jahre werde es dauern, glaubte Cheney.
Aber Bush Senior setzte sich durch, schlug bereits im Frühjahr 1991 zu. Aufgrund der Informationen, die Cheney nach dem Waffenstillstand aus dem Irak erhielt, rechnete er sich aus: Saddam war viel näher am Besitz einer Atombombe und wirkungsvoller Chemiewaffen, als die US-Geheimdienstanalysen es dem Pentagon dargestellt hatten. Die hatten geschätzt, dass Saddam noch mindestens zehn Jahre brauchen würde, um den USA plausibel und glaubwürdig drohen zu können.
Cheney kam nach dem Waffenstillstand zu einem anderen Schluss. Nicht 1991, aber womöglich bereits 1994 oder 1995 hätte Saddam Cheneys US-Soldaten mit einem Feuersturm empfangen können, und einen solchen Zeitraum hatte der Minister für die Bildung einer breiten Militärkoalition zur Befreiung Kuwaits für unabdingbar gehalten. Er, Cheney, wäre von Bagdads Militärpotenzial dann so überrascht worden wie die amerikanische Armee zu Weihnachten 1944 von der deutschen Ardennenoffensive.
Cheney schwor sich, bei einer möglichen neuen Krisenlage die CIA-Aufklärungsergebnisse nicht in aufgearbeiteter Form, sondern als Rohmaterial selbst zu prüfen. Das Desaster um die politisierte CIA, um die Vermengung von gesicherten Erkenntnissen, fehlinterpretierten Indizien und den zahlreichen Falschmeldungen und Lügen vor der entscheidenden Irak-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat 2003 hatte seinen Ursprung in Cheneys Kopf.
Es war eine eher tragische als dümmliche Verirrung eines Politikers, den dumm zu nennen auch seinen harten Gegnern nicht eingefallen wäre. Das mal verschmitzte, mal verdruckste, immer etwas schiefe Lächeln gehörte zu einem durchaus humorvollen Mann, der als einstiger Stabschef des US-Präsidenten Gerald Ford, als langjähriger Abgeordneter im Repräsentantenhaus und eben als Chef des Pentagons zwar mit Macht umzugehen verstand – der aber auch ein tief überzeugter Demokrat war, ein Republikaner im amerikanischen parteipolitischen und staatspolitischen Sinn.
Cheney und seine Tochter Liz zählten zu den schärfsten innerparteilichen Kritikern Donald Trumps. Dieser – nach Überzeugung seiner Anhänger der außenpolitische Antipode zu den Interventionisten Bush und Cheney – droht nun unter anderem Nicolas Maduro in Venezuela sowie Nigeria mit einem Einsatz der US-Armee, im ersteren Fall scheint ein Regimewechsel durchaus möglich.
Gleichzeitig könnte in Mali eine al-Qaida-nahe Terrorgruppe vor der Machtübernahme stehen. Richard „Dick“ Cheneys Leben endete am 3. November 2025. Er wurde 84 Jahre alt. Die Weltlage, die ihn prägte, scheint aber gerade in leicht veränderter Form von Neuem zu entstehen.
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