Die Ukraine muss ihr Reformtempo erhöhen, wenn sie die selbstgesteckten Ziele auf dem Weg zu einer Aufnahme in die Europäische Union erreichen will. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse, die die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas und Erweiterungskommissarin Marta Kos am Nachmittag in Brüssel vorstellen wollen.
In dem Text heißt es, die Ukraine habe im vergangenen Jahr trotz ihrer äußerst schwierigen Lage wegen des russischen Angriffskriegs ein bemerkenswertes Engagement im EU-Beitrittsprozess gezeigt. Jüngste negative Entwicklungen müssten allerdings entschieden rückgängig gemacht werden – so etwa der zunehmende Druck auf Antikorruptionsbehörden und die Zivilgesellschaft.
„Die bereits unternommenen Schritte legen den Grundstein“, teilte Kommissarin Kos vorab mit. „Es wird von entscheidender Bedeutung sein, diese Dynamik aufrechtzuerhalten und jegliches Risiko eines Rückschritts zu vermeiden, insbesondere im Bereich der Korruptionsbekämpfung.“ Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte im Juli ein Gesetz unterschrieben, das mehreren Anti-Korruptionsbehörden die Unabhängigkeit entzieht, den Entwurf nach Protesten in der Ukraine und aus Europa aber wieder zurückgezogen.
Zudem mahnen die Autoren des Berichts an, die Angleichung an EU-Standards beim Schutz der Grundrechte sowie Verwaltungs- und Dezentralisierungsreformen voranzutreiben. Fortschritte seien weiterhin notwendig, um Unabhängigkeit, Integrität, Professionalität und Effizienz in Justiz, Staatsanwaltschaft und Strafverfolgung zu stärken sowie organisierte Kriminalität intensiver zu bekämpfen.
Die ukrainische Regierung hat sich selbst das Ziel gesetzt, die EU-Beitrittsverhandlungen bis Ende 2028 abzuschließen. In der Analyse der notwendigen Reformfortschritte wird nun aber deutlich vor dem Risiko gewarnt, dass damit zu große Erwartungen geschürt werden könnten. Die Kommission unterstütze das ehrgeizige Ziel, weise jedoch darauf hin, dass hierfür eine Beschleunigung des Reformtempos erforderlich sei, heißt es dort. Das gelte insbesondere in grundlegenden Bereichen wie der Rechtsstaatlichkeit.
„Die Kommission wird auf Reformen von höchster Qualität bestehen“, so Kos weiter. „Es wird keine Abkürzungen geben.“ Die Kommission arbeite daran, „den Rat in die Lage zu versetzen, noch in diesem Jahr die Öffnung aller Cluster voranzutreiben.“ Die EU-Beitrittsverhandlungen sind in verschiedene thematische Kapitel (Cluster) eingeteilt, die nacheinander oder parallel verhandelt werden können.
Neben der Ukraine werden an diesem Dienstag auch das kleine Nachbarland Moldau sowie die Westbalkanstaaten Montenegro, Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Kosovo als EU-Beitrittsanwärter von der EU-Kommission bewertet. Zur Türkei und Georgien gibt es ebenfalls Analysen, in beiden Fällen liegt der Beitrittsprozess allerdings wegen demokratischer und rechtsstaatlicher Defizite auf Eis.
Am weitesten im EU-Aufnahmeprozess ist nach der neuen Analyse Montenegro. Dem Land wird bescheinigt, die Beitrittsverhandlungen bis Ende 2026 abschließen zu können, wenn es das Reformtempo beibehält. Für Albanien wird ein Abschluss der Beitrittsverhandlungen bis Ende 2027 für möglich gehalten. „Angesichts des Tempos einiger Beitrittskandidaten ist eine erfolgreiche Erweiterung in den kommenden Jahren realistisch möglich“, teilte Kos mit.
Das bedeutet allerdings nicht, dass die Länder dann auch wirklich beitreten können. Voraussetzung dafür ist, dass alle EU-Staaten den von der EU-Kommission ausgehandelten Beitrittsverträgen zustimmen und diese dann auch ratifizieren. Das kommende Jahr werde „eine Bewährungsprobe sein, insbesondere aber für diejenigen, die ehrgeizige Pläne für den Abschluss der Verhandlungen vorgelegt haben“, so die Kommissarin.
In Brüssel, aber auch in Deutschland werden die zuletzt sehr langwierigen Entscheidungsprozesse innerhalb der EU mit Sorge gesehen. Grund ist insbesondere das Risiko, dass Länder mit fehlender Beitrittsperspektive engere Partnerschaften mit den Systemrivalen China oder Russland eingehen könnten. „Die Menschen beginnen, das Vertrauen auf eine baldige Zukunft in der EU zu verlieren“, warnte jüngst der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) zu einem Treffen mit den Westbalkanländern. Das könne man sich nicht leisten.
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