Kürzlich hat eine Meinungsumfrage ergeben, dass eine Mehrheit der Palästinenser weiter die Hamas unterstützt. Demnach halten 53 Prozent der Befragten den Terrorangriff vom 7. Oktober auf Israel nach wie vor für richtig. In Gaza lehnen 55 Prozent der Bewohner ab, dass die Hamas ihre Waffen abgibt. So lautet das Ergebnis einer repräsentativen Erhebung in Gaza und dem Westjordanland des Palestinian Center for Policy and Survey Research.
Das lässt mehrere Interpretationen zu. Entweder: Auch nach zwei Jahren Krieg und weitgehender Zerstörung des Gaza-Streifens durch Israels Armee bleiben viele der Befragten unverbesserliche Dschihadisten. Oder: Viele der Menschen äußern sich auch deshalb so, weil sie Angst vor Verfolgung durch die Islamisten haben. Der renommierte Hamas-Experte und Ex-Geheimdienstler Michael Milhstein sieht im Gaza-Streifen weiterhin eine „kleine, aber starke Minderheit“, die sich mit der Hamas verbünde. Und so lange das so sei, laute die Frage für die Menschen weniger, ob sie für die Hamas seien, „sondern umgekehrt: Ob die Hamas für sie ist. Weil sonst ihr Leben in Gefahr ist.“ Dazu komme die „Gehirnwäsche“, die die Hamas erfolgreich seit Jahrzehnten betreibe.
Beide Sichtweisen führen zu einem ähnlichen Schluss: Sofern die Islamisten im Gaza-Streifen weiter als Organisation bestehen, werden sie Macht und Einfluss ausüben. Ob durch aktive Unterstützung ihrer Ideologie oder weil Menschen sich nicht trauen, sich gegen sie zu stellen. Auch mehrere Wochen nach dem offiziellen Waffenstillstand ist nicht in Sicht, dass Hamas ihre Waffen abgeben wird – Bilder von Hinrichtungen palästinensischer Gegner der Hamas gingen um die Welt.
Das wirft grundsätzliche Fragen für die Nachkriegsordnung auf. Ein großer Streitpunkt auf diplomatischer Bühne ist jetzt die Frage, wer künftig die humanitäre Hilfe für die zwei Millionen Bewohner übernimmt, die medizinische Versorgung und die Bildung der Kinder. Der Trump-Plan sieht ausdrücklich vor, dass die „Vereinten Nationen und ihre Agenturen“ die Verteilung „ohne Einmischung“ der Kriegsparteien übernehmen sollen.
Aber dem Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) hatte Israel zu Beginn des Jahres alle Aktivitäten auf israelischem Staatsgebiet untersagt – mit dem Vorwurf, der mit 13.000 Beschäftigten größte Arbeitgeber des Gaza-Streifens sei von der Hamas „unterwandert“. Nicht zuletzt halte sich die Terrororganisation, weil sie internationale Hilfsgüter stehle.
Die UN-Agentur kann seither keine Hilfslieferungen mehr nach Gaza bringen, weil Israels Behörden die Grenzübergänge kontrollieren. Sie betreibt aber medizinische Einrichtungen und unterrichtet seit dem offiziellen Waffenstillstand vom Oktober wieder rund 300.000 Schüler, vor allem über Video.
Die UNRWA weist die Vorwürfe einer Unterwanderung stets als „Desinformationskampagne“ zurück, es gehe um Einzelfälle, die untersucht würden und in denen, wenn notwendig, auch Konsequenzen gezogen werden. Diese Sichtweise teilt auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag, die oberste rechtliche Instanz der Vereinten Nationen.
Die Richter schrieben kürzlich in einem Gutachten, die UNRWA sei im Gaza-Streifen „unersetzbar“ und Israel müsse seine Arbeit zulassen. Zudem lägen keinesfalls ausreichend Beweise für eine „Unterwanderung“ vor.
Diesen Richterspruch hatte Israel zurückgewiesen und scharf kritisiert. Als Reaktion hat die proisraelische Lobbygruppe UN Watch nun eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt, die WELT vorab einsehen konnte. Das interaktiv zu bedienende Netzwerk spiegele „ein Jahrzehnt“ von Untersuchungen wider, heißt es.
Es umfasst annähernd 500 Personen, die für Verbindungen zwischen der UNRWA und der Hamas, dem Islamischen Dschihad und anderen Organisationen stehen sollen, mit mehr als 889 dokumentierten Querverbindungen untereinander. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
Das Netzwerk zeigt UN-Lehrer im Gaza-Streifen, dem Libanon, Jordanien und dem Westjordanland, die zugleich hohe Ämter in islamistischen Organisationen innehaben. Dazu viele Mitarbeiter der UN-Agentur, die öffentlich ihre Unterstützung für Terror, Mord und für die Auslöschung Israels geäußert und sich mit ranghohen Hamas-Figuren getroffen haben.
Die Belege wirken bei einigen Personen äußerst umfangreich, sie muten teils an wie Akteneinträge der israelischen Geheimdienste. Die Dokumentation zeigt sogar Bilder von Getöteten, die mit einer Decke mit Emblemen der Terrororganisation zugedeckt wurden.
Viele der nun gesammelten und öffentlich aufbereiteten Vorwürfe sind bereits bekannt. So wie der von Fateh Scharif, der im Libanon die Gewerkaschat der UNRWA-Lehrer leitete und zugleich hoher Hamas-Funktionär war. Scharif wurde im vergangenen Jahr von Israels Militär gezielt getötet, die UN hatten zu diesem Zeitpunkt die Vorwürfe zugegeben und Scharif bereits suspendiert. Aber die Sammlung erhält auch Vorwürfe, die laut UN-Watch erstmals öffentlich dokumentieren werden. Darunter Mitarbeiter, die sogar Gründungsmitglieder der Hamas und anderer radikaler Organisationen gewesen sein sollen. Genannt und mit Belegen versehen werden hier insgesamt zehn Namen.
UNRWA-Lehrer trifft iranischen Außenminister
Ein Foto zeigt Hamas-Mitglied Suhail al-Hindi, der bis zum Jahr 2017 für die UNRWA als Lehrer tätig war, bei einem Spitzentreffen in Katar mit dem iranischen Außenminister im September. Dokumentiert ist auch, dass der langjährige und inzwischen getötete Hamas-Anführer Ismail Hanija die lokalen Lehrer-Gewerkschaften der UN-Agentur bei einem Treffen als „integralen“ Bestandteil der Terrororganisation bezeichnete. Auch zeigt die Datenbank Bilder von Treffen ranghoher UN-Amtsträger, darunter UNRWA-Generalsekretär Philippe Lazzarini, mit Vertretern der Hamas. Dabei handelt es sich allerdings nicht um geheime, sondern um öffentliche Treffen in der Vergangenheit. Die UN bezeichnen die Hamas nicht als Terrororganisation und betonen stets, dass sie als „humanitärer und neutraler Helfer“ eben mit den Gegebenheiten und Machthabern vor Ort arbeiten müssten.
Doch UN-Watch zweifelt, wie Israels Regierung auch, schon lange diesen neutralen Charakter an. „Nachrichtendienstliche Erkenntnisse zeigen, dass etwa zwölf Prozent des UNRWA-Personals im Gaza-Streifen Mitglieder der Hamas oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen sind“, heißt es in dem Bericht. Diese Zahl ergebe sich aus dem Abgleich der Mitarbeiterlisten mit von der israelischen Armee beschlagnahmten Unterlagen der Hamas.
„Die UNRWA behauptet, eine humanitäre Organisation zu sein, doch die Beweise zeigen, dass sie von Agenten der Hamas unterwandert ist“, sagt UN-Watch Direktor Hillel Neuer. Das Problem besteht nicht aus Einzelfällen, „ein paar faulen Äpfeln“, wie der Internationale Gerichtshof kürzlich geurteilt habe. „Es ist strukturell, weitverbreitet und absichtlich“, so Neuer weiter.
Auf Anfrage von WELT verweist ein UNRWA-Sprecher auf das aktuelle Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, der erst kürzlich die Vorwürfe geprüft und die „Behauptung einer Unterwanderung“ und Zweifel an der Neutralität von UNRWA als „unbegründet“ zurückgewiesen habe. Auf dessen Grundlage sei Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, die Arbeit von UNRWA „zu unterstützen und zu erleichtern, statt zu behindern“.
Zudem verfolge das Hilfswerk auch mit Unterstützung der Bundesregierung eine „umfassende Reformagenda“ zur Stärkung der Schutzmechanismen und gehe im Sinne der „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Hassrede, Diskriminierung und Gewalt „allen begründeten Vorwürfen“ nach.
Der Versuch Israels, die UNRWA dauerhaft aus dem Gaza-Streifen zu verbannen, markiert eine Zäsur in der Geschichte des Nahost-Konflikts. Bereits vor dem Terrorangriff am 7. Oktober auf Israel hatte Jerusalem das Palästinenserhilfswerk scharf kritisiert.
Die UN-Agentur ist ausschließlich für palästinensische Flüchtlinge zuständig und entsprechend tief in der Gesellschaft der besetzten Gebiete verwurzelt. Weil sich der Status der 1948 rund 750.000 vom heutigen Staatsgebiet Israels vertriebenen Palästinenser vererbt, haben inzwischen sechs Millionen Menschen diesen Status.
Die UNWRA arbeitet außer im Gaza-Streifen, in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland auch im Libanon, in Syrien und Jordanien – Länder, die sich bis heute weigern, den Palästinensern eine Staatsangehörigkeit zu geben.
Die UN-Agentur erklärt, sie verfolge keine eigene politische Agenda und werde gebraucht, weil es noch immer keinen palästinensischen Staat gibt. Als Alternative hatte Israel im Frühjahr die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln der Stiftung Gaza Humanitarian Fund (GHF) übergeben. Private Sicherheitskräfte überwachen die Essensausgabe. Immer wieder gab es Tote und Tumulte, die internationale Kritik ist groß.
UNRWA-Chef Lazzarini sagte im Sommer im WELT-Interview, das neue Hilfssystem könne man nur als „Abscheulichkeit“ bezeichnen. Seine Agentur habe 400 Verteilstellen betrieben, jetzt gebe es nur wenige Standorte für Hunderttausende Menschen. Es ist aber auch fraglich, ob der Trump-Plan die GHF zulässt, weil Israel die Kontrolle über die Stiftung hat.
Die Hamas hat öffentlich dazu aufgerufen, Israels neues Verteilsystem zu boykottieren und droht Menschen, die dort Hilfe suchen, als „Kollaborateure“ zu bestrafen.
Zwar sieht der Trump-Plan vor, dass in Gaza eine Verwaltung eingerichtet wird, in der auch Palästinenser eine neue Struktur ausfüllen, die keine Verbindung zur Hamas haben. Aber israelische Sicherheitsexperten befürchten, dass sich die Terrororganisation dann, ähnlich wie die Hisbollah im Libanon, hinter der zivilen Regierung verstecken könnte – und dann sicherlich Interesse daran hat, Hilfsgüter zu erbeuten.
Philip Volkmann-Schluck, Leitender Redakteur im Ressort Außenpolitik, berichtet für WELT über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf den Nahen Osten, China und Südosteuropa.
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