In einem Konferenzhotel im Zentrum von Brüssel, nur wenige Gehminuten vom Europaparlament entfernt, wird heftig russisch diskutiert. Die Gespräche an den Stehtischen und in der Schlange an der Kaffeemaschine sind erregt. Hier findet das sechste sogenannte Antikriegskomitee statt. Es ist eine Konferenz der russischen Opposition im Exil, deren Teilnehmer sich als demokratisches Gegengewicht zur Diktatur unter Wladimir Putin begreifen.
Das Ziel der etwa 150 Oppositionellen ist ambitioniert: Sie wollen gemeinsam ein demokratisches Russland errichten.
Das Antikriegskomitee wurde unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine von Michail Chodorkowski ins Leben gerufen, er ist Unternehmer und scharfer Gegner der Putinregierung. Zehn Jahre saß er in einem sibirischen Straflager und lebt seit 2015 im Londoner Exil.
Die Arbeit des Komitees beruht auf der „Berliner Erklärung“, die im April 2023 formuliert wurde und den Abzug russischer Truppen aus der Ukraine, die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 und Reparationszahlungen sowie eine demokratische, rechtsstaatliche Zukunft für Russland fordert. Unter den 22 Mitgliedern sind große Namen: Etwa der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa, der zwei Vergiftungen durch Putins Geheimdienst überstand, der langjährige Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow oder Schachweltmeister Garri Kasparow.
Dieses Treffen verlangt viel Mut. Denn Mitte Oktober erklärte der russische Geheimdienst alle 22 Komiteemitglieder zu Terroristen. Auch, wenn viele Anwesenden den Terroristenstatus als Auszeichnung verstehen, als Zeichen, dass Putin Angst vor ihnen hat, sind die Vorsichtsmaßnahmen hoch. Der Veranstaltungsort ist geheim, vor dem Konferenzhotel patrouilliert die belgische Polizei, es gelten strikte Regeln für Fotoaufnahmen.
Das Problem der Opposition ist, dass sie fast vollständig ins Exil gehen musste. Viele Gegner von Putin leben im Westen, ihr Einfluss auf die alte Heimat ist begrenzt. So geht es während der zwei Konferenztage in zahlreichen Gesprächskreisen und Vorträgen vor allem um zwei Dinge: Wie sich in Russland Proteste und Unruhen provozieren lassen, um den Untergang des Präsidenten zu beschleunigen. Und was dann geschehen könnte.
„Es wird eine Zeit nach Putin kommen. Das ist unvermeidlich. Vielleicht morgen. Vielleicht in einigen Jahren. Unsere Aufgabe ist es, auf diesen Tag vorbereitet zu sein“, sagt Gründer Chodorkowski zur Begrüßung.
Dann stellen verschiedene Teilnehmer ihre Arbeit vor, mit der sie die russische Gesellschaft aus ihrem Dämmerschlaf reißen und gegen die Regierung aufbringen möchten: Sascha Butko hat eine demokratische Online-Universität gegründet, um westliche Werte in Russland zu verbreiten. Das Projekt „Picketman“ übernimmt die Geldstrafen für Russen, die vor Gericht für ihre freie Meinungsäußerung bestraft werden. Das journalistische Projekt „Mirovich“ produziert Dokumentarfilme, die die Verbrechen der Stalinzeit und die negativen Seiten einer Diktatur ausleuchten.
Zuweilen erinnert das Treffen an eine große Klassenfahrt. Die Opposition ist in aller Welt verstreut, die Teilnehmer sind aus den USA, aus Israel und ganz Europa angereist, man sieht sich nur selten. Neben vielen ständigen Mitgliedern des Komitees sind russische Journalisten, Politiker und Künstler, Psychologen, die sich um politische Gefangene kümmern, Anwälte, die junge Russen in Sachen Kriegsdienstverweigerung beraten.
Der Hass auf das derzeitige System verbindet die Anwesenden und bestimmt die Gespräche: Am Buffet schildert einer seine spektakuläre Flucht aus der Untersuchungshaft, die ihn durch weite belarussische Sümpfe bis nach Litauen führte. An der Kaffeemaschine erzählt man sich Geschichten aus den langen Jahren in russischen Straflagern, von Gewalt und ständiger Kälte. Auf der Dachterrasse wird verflossenen Besitztümern in der Heimat nachgetrauert, die der russische Staat wegen in Abwesenheit eingeleiteter Strafverfahren konfisziert hat.
Kriegsteilnehmer sollen mit guten Posten bedacht werden
In einem mittäglichen Gesprächskreis geht es dann um die russischen Parlamentswahlen 2026. Die These der Redner: Putin spreche immer häufiger von einer neuen russischen Elite, die sich aus Teilnehmern der „Spezialoperation“ rekrutieren solle. Schon heute bekämen Kriegsheimkehrer Verwaltungsposten oder unterrichteten an Schulen. Doch Putin reiche das nicht: Er wolle die gewalttätigen und in Teilen traumatisierten Krieger nun auch in Parlament und Regierung unterbringen.
Das Antikriegskomitee will den Russen aus der Ferne vor Augen halten, wer die neue russische Führungselite stellen wird. Die Redner betonen: Die potenzielle gesellschaftliche Sprengkraft sei enorm, wenn die Leute verstünden, dass sie bald von „Gewaltverbrechern, Alkoholikern und armen Schluckern aus Provinzstädten“ regiert würden, die in der Ostukraine gekämpft hätten. Die Oppositionellen im Raum nennen das „wählerische Spezialoperation“. Denn Wahlen bürgen, sogar in Diktaturen, immer eine Chance auf Umbruch und Veränderung.
Anhänger von Julia Nawalnaja fehlen vollständig
Zum Mittag gibt es Hühnchensandwiches, Guacamole und Creme Brulee. Der rege wie herzliche Austausch kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die russische Opposition nicht nur zahlenmäßig überschaubar, sondern auch intern zerstritten ist. Die Anhänger von Julia Nawalnaja, der Witwe des ermordeten Regimegegners Alexej Nawalny, fehlen vollständig, ebenso der Fond für Korruptionsbekämpfung (FBK), der ihr nahesteht.
Denn der FBK deckt regelmäßig Korruptionsskandale in Russland auf und blickt skeptisch auf den Komiteegründer Chodorkowski. Dieser war in den chaotischen Nachwendejahren zum Ölmagnaten und Oligarchen aufgestiegen, Anfang der Zweitausender war er einer der reichsten Menschen Russlands. Das FBK wirft ihm vor, sich dabei unlauterer Methoden bedient zu haben und Teil genau jener Oligarchenelite gewesen zu sein, unter der Russland heute leide.
Zwar eint die Anwesenden ihre Feindschaft zu Putin. Doch sind die Beweggründe dafür sehr unterschiedlich: Für die libertären Stränge der Opposition, etwa erfolgreiche russische Unternehmer, ist der Ukrainekrieg schlecht fürs Geschäft. Die Demokraten wiederum verachten den Autoritarismus, die Militarisierung, die Isolation in der Welt. Westlich orientierte Künstler und Schriftsteller stoßen sich an der Enge und der geistigen Taubheit, die in Russland eingekehrt ist. Andere treibt allein das Mitgefühl und die Abscheu angesichts der Kriegsverbrechen, die die russische Armee in der Ukraine anrichtet.
Teile der Opposition sind ultrarechts, etwa das „Russische Freiwilligenkorps“, ein Bataillon, das Seite an Seite mit den Ukrainern gegen die russische Armee kämpft. Sie hassen Putin, weil er ohne Not russisches Blut vergießt. Aus der Führungsriege ist Wasilij Krjuschenko nach Brüssel gereist, der zu einer Schweigeminute für die Kriegstoten aufruft. Innerhalb der Opposition sind die ultrarechten Kämpfer umstritten, doch viele wollen sich nicht mit ideologischen Differenzen aufhalten: Im Kampf gegen Putin brauche man jede helfende Hand.
Am Nachmittag sitzt der estnische Europapolitiker Eerik-Niiles Kross mit auf der Bühne. Gesprochen wird über eine frisch gegründete Dialogplattform in der parlamentarischen Versammlung des Europarates, die den Kontakt zwischen der EU und den demokratischen Kräften Russlands intensivieren soll. Kross ist im Rahmen jener Plattform der Ansprechpartner für die russische Opposition. Alle Seiten heben hervor, wie wichtig es sei, im Austausch zu stehen.
Doch der estnische Abgeordnete Kross dämpft den Optimismus. „Der Ukrainekrieg ist der Elefant im Raum. Und auch, wenn das Komitee unter dem Motto ‚Brücken statt Grenzen‘ stattfindet, hat Russland unvorstellbar viele Brücken zerstört.“ Austausch sei gut, doch gäbe es nicht viel schönzureden. „Das Misstrauen sitzt sehr, sehr tief.“ Ein weiteres Problem, dass die parlamentarische Versammlung sieht: Russlands Opposition ist, im Gegensatz etwa zu Swetlana Tichanowskaja in Belarus, nicht einmal durch Wahlen legitimiert.
Der Westen hört auf Putins Propaganda
Später geht es um Kremlpropaganda und wie man sie bekämpfen kann. Der Westen sei nicht resilient in Hinblick auf russische Fake-News, schimpft einer der Redner. Wie könne es sein, dass man in London oder Paris in ein Taxi steige, und der Fahrer plötzlich zu referieren beginne, warum Putin so ein guter Politiker sei. Kein Wunder: Fast eineinhalb Milliarden Dollar habe der Kreml im vergangenen Jahr für Propaganda ausgegeben, merkt eine Rednerin an.
Ein anderer fordert, die in der EU eingefrorenen russischen Devisen freizugeben. Wenn man nur 0,1 Prozent dieser russischen Milliarden dem Exiljournalismus zugutekommen ließe, könne man eine ganze Armee von „Konterpropagandisten“ finanzieren. Stattdessen stünden die meisten Exilmedien vor dem finanziellen Aus, bald werde niemand mehr gegen die Falschnachrichten des Kremls anschreiben.
Andere Oppositionelle haben sich Gedanken über die ersten 100 Tage nach Putin gemacht. Juristen haben eine Übergangsrechtsprechung ausgearbeitet, Strategien für einen demokratischen Machtwechsel.
Das Abendessen findet in einem Restaurant ganz in der Nähe statt. Die Stimmung ist gelöst, Weinkaraffen werden herumgereicht, gehetzte Kellner verteilen Gebratenes, hantieren an den Tischen mit Lachs und Shrimps. Zum Hauptgang eilen sie mit langen Fleischspießen herbei, säbeln Schwein und blutig gebratenes Rind direkt auf die Teller der Gäste.
Die Stimmen gehen durcheinander, es ist laut. Einer erzählt vom großen Gefangenenaustausch des vergangenen Jahres. Er sei einer der 16 Menschen gewesen, die aus russischen Gefängnissen freigekommen seien. Ein anderer berichtet, wie er am Moskauer Flughafen vom Geheimdienst verhaftet wurde. Eine junge Russin, die in Vilnius lebt, schwärmt davon, wie beruhigend es sei, nun so viele deutsche Soldaten im Land zu haben. „Wenn ich einen deutschen Jet am Himmel sehe, dann weiß ich: Schutzlos stehen wir nicht da.“
Und drei ältere Männer versichern sich, dass die Menschen in Russland in vielen Fällen unglücklich mit Putin seien. Man müsse diese kollektive Unzufriedenheit lediglich kultivieren und weiter anfachen. Irgendwann sei ein kritischer Punkt überschritten. So sei das in Diktaturen immer schon gewesen. Und dann käme endlich Veränderung.
Julius Fitzke ist seit Juli 2025 Volontär bei WELT im Ressort Außenpolitik.
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