Jeder vierte Jugendliche unter 18 Jahren ist in Deutschland auf staatliche Sozialleistungen angewiesen. Das geht aus Angaben von Ministerien und der Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage von WELT AM SONNTAG hervor. So wächst rund ein Viertel aller Minderjährigen in Haushalten auf, die ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Transferleistungen wie Bürgergeld, sonstige Sozialhilfe oder Kinderzuschlag bestreiten.

Wie die Bundesagentur für Arbeit WELT AM SONNTAG mitteilte, lebten Mitte dieses Jahres 1.810.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren vom Bürgergeld (Grundsicherung nach Sozialgesetzbuch II). Daneben seien im Juni „etwa 1,3 Millionen“ Minderjährige mit dem sogenannten Kinderzuschlag unterstützt worden.

Er ist für Eltern vorgesehen, die zu wenig verdienen, um das Existenzminimum der Kinder zu sichern, aber zu viel, um ins Bürgergeldsystem aufgenommen zu werden. Wer Kinderzuschlag bezieht, erhält weitere Vergünstigungen wie Teilhabeleistungen, zu denen Zuschüsse für Klassenfahrten oder die Befreiung von Kita-Gebühren gehören. Auch ist der gleichzeitige Bezug von Wohngeld möglich, das inzwischen an rund 1,2 Millionen Haushalte ausgezahlt wird.

Für Kinder, die außerhalb ihrer Familie untergebracht werden, greifen andere Kategorien. Wie das Familienministerium mitteilt, wurden laut den „aktuellsten Stichtagszahlen zu Fremdunterbringungen“ vom 31. Dezember 2023 rund 150.000 Minderjährige in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie mit Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch VIII versorgt.

Nach Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales lebten Ende 2024 rund 136.000 Kinder und Jugendliche von Asylbewerberleistungen sowie 23.000 von der „Hilfe zum Lebensunterhalt“, die im Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt ist.

Insgesamt ergibt das 3,42 Millionen Kinder und Jugendliche in den genannten Sozialhilfe-Kategorien. Laut der jüngsten Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen Bundesamtes zum Stichtag Ende 2024 leben 13,98 Millionen Minderjährige im Land. Von ihnen beziehen also 24,5 Prozent diese Transferleistungen.

Berechnung aller Sozialtransfers hierzulande? Unmöglich

Lilly Fischer, die am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) forscht, sagte WELT AM SONNTAG: „Neben diesen existenzsichernden Sozialleistungen gibt es noch weitere Sozialleistungen zur Unterstützung von Kindern wie den Unterhaltsvorschuss oder das Bildungs- und Teilhabepaket. Bei diesen gibt es allerdings oft Überschneidungen mit den genannten Leistungsarten.“

Fischer veröffentlichte vor zwei Wochen gemeinsam mit ihren Kollegen eine viel beachtete Datenbank, in der das Ifo-Institut zu dem vorläufigen Ergebnis kommt, dass derzeit 502 verschiedene Sozialleistungen auf Bundesebene existieren. Knapp 50 Sozialleistungen dienen dabei zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen. „Unsere Datenbank zu den Sozialleistungen ist ein erster Schritt zu mehr Transparenz im Sozialstaat. Für eine evidenzbasierte Sozialpolitik wäre es dringend erforderlich, dass die Politik Daten zu Inanspruchnahme, Kosten und Verwaltungsaufwand der Leistungen bereitstellt“, sagte die Ökonomin.

Ursprünglich wollten die Forscher das Ausmaß und die Wirkung aller Sozialtransfers berechnen, was wegen der Vielzahl an Hilfsarten nicht möglich war. So umfassen allein die Sozialgesetzbücher derzeit 3246 Paragrafen, die sowohl die Sozialleistungen als auch die Umsetzungsregeln enthalten. Hinzu kommen Gesetze, die weitere Leistungen begründen, wie beispielsweise das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, das Bundesausbildungsförderungsgesetz oder das Gesetz über die Familienpflegezeit.

Zu den umfangreichen weiteren staatlichen Hilfsformen für Kinder, deren Eltern nicht ausreichend verdienen, um sie zu finanzieren – die sich aber mit den oben genannten überschneiden –, gehört etwa der Unterhaltsvorschuss. Auf ihn haben Alleinerziehende Anspruch, wenn der andere Elternteil keinen Unterhalt zahlt. Für rund 855.700 Kinder und Jugendliche zahlten Bund und Länder 2024 Unterhaltsvorschuss. Der zahlungspflichtige Elternteil kann zwar nachträglich in Regress genommen werden, das gelingt aber nur selten. Laut Familienministerium konnten nur 17 Prozent der im vergangenen Jahr insgesamt gezahlten 3,2 Milliarden Euro zurückgeholt werden; nämlich rund 545 Millionen Euro.

Zwischen den Bundesländern bestehen erhebliche Unterschiede. Für die wichtigste Sozialhilfe-Kategorie, das Bürgergeld, hat das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe auf Grundlage von Daten der Arbeitsagentur berechnet: „Ende 2024 reichten die SGB-II-Quoten in der Altersgruppe unter 18 Jahren von 28,2 Prozent im Land Bremen bis 7,0 Prozent in Bayern.“

Ein entscheidender Faktor ist die starke Einwanderung von Ausländern, die oft erst viele Jahre nach Einreise Arbeitsplätze finden, mit denen sie ihre Familien selbstständig finanzieren können. Nach Auskunft der Arbeitsagentur waren Ende Juni 2025 unter den 1.810.000 Kindern und Jugendlichen im Bürgergeldbezug 854.000 keine deutschen Staatsbürger. Kinder mit mehreren Staatsangehörigkeiten zählen in der Statistik ausnahmslos als Deutsche.

Der Ökonom Bernd Raffelhüschen warnt: „Wenn in einer Gesellschaft ein hoher Anteil der Kinder mit der Erfahrung groß wird, von Sozialleistungen abzuhängen, führt dies zu erheblichen Folgeproblemen. Studien zeigen immer wieder, dass Jugendliche aus solchen Familien durchschnittlich ein höheres Risiko aufweisen, später selbst nicht auf eigenen Beinen stehen zu können.“ Ein wesentlicher Faktor neben der Migration sei, dass es mittlerweile viel mehr Alleinerziehende mit Kindern gebe.

Man könne aber von den skandinavischen Ländern lernen, so der Freiburger Professor: „In Dänemark sind erstens alle Kinder vom neunten Monat an in Betreuung, und zweitens bekommt dort eine alleinstehende Mutter keine Sozialhilfe, die bekommt einen auskömmlichen Job. Der wird dort zugewiesen und wenn es nicht klappt, wird ein psychologischer Betreuer zur Seite gestellt, bis es klappt.“

Marcel Leubecher ist Redakteur im Ressort Politik Deutschland.

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