Der ehemalige Boxweltmeister Vitali Klitschko ist seit dem Jahr 2014 Bürgermeister von Kiew. Der 54-Jährige steht damit an der Spitze der Hauptstadt der Ukraine, seit Russland erstmals die Ukraine überfiel. In seiner Zeit als Profiboxer zwischen 1996 und 2013 lebte Klitschko in Deutschland. Aktuell ist er für den WELT-Sicherheitsgipfel bei Axel Springer nach Berlin gekommen.
WELT: Sie haben im Sommer gesagt, dass jeder in ihrem Land müde sei von diesem Krieg. Jetzt steht der Winter bevor und der ist in der Ukraine oft sehr hart. Wie würden Sie die Stimmung in der Ukraine jetzt aktuell beschreiben?
Vitali Klitschko: Ja, die Müdigkeit ist da und wenn Sie auf die Straße gehen und mit den Menschen sprechen, stellt jeder die Frage, wann endlich dieser sinnlose Krieg vorbei ist.
WELT: Und was antworten Sie dann?
Klitschko: Ich bin kein Wahrsager, aber meine klare Antwort ist, dass die Russen nur Stärke verstehen und deshalb müssen wir stark sein. Für Schwäche haben sie keine Aufmerksamkeit. Deswegen müssen wir kämpfen, müssen wir stark sein an der Frontlinie, müssen wir stark sein im Land, müssen wir dagegen kämpfen und müssen wir unsere Unabhängigkeit verteidigen. Die Leute haben Verständnis, dass es im Moment schwierig ist, weil es wie vor jedem Winter sehr viele Anschläge auf unsere Kraftwerke gibt im ganzen Land. Putin sagt, dass seine Ziele militärisch sind, und ich frage mich, wieso er das Leben friedlicher Städte zerstört, friedlicher Menschen. Darüber habe ich sehr viel nachgedacht, und meine einzige Erklärung ist, dass er die Menschen einfach in Depressionslaune bringen will. Deshalb ist meine Botschaft, dass jeder Bürger stark sein muss, und auf keinen Fall in Depression verfallen darf. Auch wenn es schwierig ist.
WELT: Sie sagen ja selbst, man muss stark sein und Sie wollen die Leute animieren zu kämpfen, nicht depressiv zu werden. Da könnte es keinen besseren geben, um das zu personifizieren, als einen ehemaligen Boxweltmeister. Aber wie schwer fällt Ihnen das auch persönlich, diese Stärke zu verkörpern? Für Sie ist es ja auch unglaublich anstrengend, jetzt seit Jahren in diesem Ausnahmezustand zu leben und zu arbeiten.
Klitschko: Ehrlich gesagt, es ist schwierig, weil ich auch ein normaler Mensch bin, ich habe sehr viele Emotionen. Es ist schwierig, stark zu sein, wenn man Krankenhäuser besucht. Man sieht sehr viele junge Menschen, Kinder, ein bisschen älter als 20 Jahre, ohne Arme, ohne Beine, sehr schwer verletzt. Ich muss alle motivieren, wir tun sehr viel, um die Menschen zu unterstützen. Zusammen mit unserer Partnerstadt Berlin haben wir ein Prothesenzentrum geschaffen für unsere Leute, die schwer verletzt sind. Das gibt Hoffnung. Keiner kann uns besiegen, solange wir kämpfen, deswegen müssen wir kämpfen und dürfen auf keinen Fall aufgeben. Unsere Zukunft steht auf dem Spiel, die Zukunft unserer Kinder. Es geht um die Frage, ob die Ukraine ein unabhängiges Land bleibt oder ob sie Teil des russischen Imperiums wird.
WELT: Sie haben vorhin gesagt, wir müssen stark sein an der Front. Jetzt wackeln gerade strategisch wichtige Städte wie Pokrowsk, Kupiansk, Huliaipole. Wie lange kann die Ukraine da noch durchhalten, wie schätzen Sie die Lage an der Front ein?
Klitschko: Jeder Krieg hat drei wichtige Faktoren, das sind die Finanzen, die Waffen und die menschlichen Ressourcen. Ich möchte mich bedanken für die finanzielle Unterstützung, für die Lieferung von Verteidigungswaffen. Bei den menschlichen Ressourcen haben wir im Vergleich zu Russland große Probleme. Unsere Soldaten an der Front sagen, es sieht aus wie im Computerspiel: die Russen gehen und gehen und gehen und sie achten nicht auf fallende Soldaten. Sie haben einen Befehl und rücken vor. Trotzdem verteidigen wir unser Land erfolgreich seit fast vier Jahren. Es ist kein Geheimnis, dass viele Experten der Welt uns ein paar Tage oder ein paar Wochen gegeben haben gegen eine der stärksten und der größten Armeen der Welt. Ich möchte danke sagen an unsere Partner. Wir verteidigen unser Land erfolgreich. Im Moment ist die Situation an der Front schwierig, aber trotzdem kämpfen wir weiter und das Wichtigste ist da, der Mut zu kämpfen, ist da. Das ist sehr wichtig.
WELT: Sie haben gesagt, die Menschen in Ihrem Land fragen, wann endet dieser Krieg endlich, jetzt hat Präsident Selenskyj vor einigen Tagen gesagt, es werde mindestens noch zwei bis drei Jahre dauern, das bedeutet ja auch, dass sie weitere Finanzhilfen brauchen. Die USA werden vermutlich nicht mehr in der Weise wie bisher Finanzhilfen leisten. Glauben Sie, dass Europa weiter solidarisch sein wird?
Klitschko: Meine Botschaft ist: Wir verteidigen nicht nur unser Land. Es ist kein Geheimnis, dass es eine große Tragödie für Putin persönlich war, als die Sowjetunion zusammengebrochen ist. Er träumt davon, das russische Imperium wieder aufzubauen. Zum russischen Imperium gehört für ihn die Ukraine, eines der größten Länder Europas. Zum russischen Imperium gehören für ihn auch die baltischen Länder, er spricht darüber ganz offen, auch Polen, Tschechien, Slowakei. Und man sollte bitte nicht vergessen, dass in der kranken Vision von Putin auch ein Teil von Deutschland zum russischen Imperium gehört, wo er jahrelang als KGB-Agent gearbeitet hat. Deswegen darf man auf keinen Fall unterschätzen: Wenn wir nicht erfolgreich sind, dann werden unsere Nachbarn die nächsten sein. Heute verteidigen wir nicht unsere territoriale Integrität, unser Land, wir verteidigen jeden von euch. Jeder muss den Sinn von diesem sinnlosen Krieg verstehen. Die Ukraine will ein Teil der europäischen Familie werden. Putin sagt: „Ich bin nicht einverstanden, die Ukraine gehört zum russischen Imperium. Sie war nie unabhängig, sie war immer ein Teil des russischen Imperiums und deswegen erlaube ich nicht, dass sie nach Europa geht.“ Er lebt in einer anderen Welt, in seiner sowjetischen Vision und will das sowjetische Imperium wieder aufbauen. Wir wollen nicht zurück zur Sowjetunion, wir sehen unsere Zukunft als Teil der europäischen Familie.
WELT: Und dafür brauchen sie viele Soldaten. Jetzt hat aber die ukrainische Regierung nach Vorschlag von Präsident Selenskyj die Ausreise von wehrpflichtigen Männern im Alter von 18 bis 22 Jahren ins Ausland erlaubt. Seitdem hat sich die Anzahl von schutzsuchenden Ukrainern in Deutschland verzehnfacht. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder will deshalb den Zuzug von Ukrainern begrenzen. Hat die ukrainische Regierung da einen Fehler gemacht, weil jetzt viele potenzielle Soldaten plötzlich das Land verlassen?
Klitschko: Wir können sehr lange darüber diskutieren, ob es ein Fehler ist oder nicht. Wir haben riesige Probleme mit Soldaten, mit menschlichen Ressourcen.
WELT: Welches Alter, glauben Sie, wäre sinnvoll? Welchen Vorschlag würden Sie machen?
Klitschko: Früher waren 18-Jährige in der Armee, aber das sind Kinder. Jetzt im Moment kann man nur ab 25 Jahren in der Ukraine mobilisieren. Ein oder zwei Jahre kann man weniger machen. Das bedeutet 23 oder 22.
WELT: Die ukrainische Regierung hofft, dass junge Leute, die jetzt ins Ausland gehen, um dort zu studieren, eine Ausbildung zu machen, dann nach Kriegsende wiederkommen, um das Land wieder aufzubauen. Halten Sie das für realistisch oder befürchten Sie, dass da jetzt eine ganze Generation von Ukrainern ins Ausland geht und nie wieder zurückkommt?
Klitschko: Der wichtigste Wert, den die Ukraine hat, sind die Menschen. Und deswegen integrieren sich die jüngeren Menschen ziemlich schnell in die Gesellschaft. Sie lernen die Sprache ziemlich schnell, sie gründen Familien. Wir wären glücklich, wenn die Hälfte der jungen Menschen wieder zurückkommt. Aber die erste Bedingung für die Rückkehr muss Frieden sein. Die zweite ist, dass sie einen Job bekommen müssen. Das dritte ist, dass sie die gleiche Lebensqualität wie in Europa bekommen müssen. Nach dem Krieg haben wir riesige Herausforderungen.
WELT: Mitten in diesem Krieg erschüttert ein weiterer Korruptionsskandal die Ukraine. Ganz konkret ist von Behörden ein Bestechungsskandal in Millionenhöhe beim staatlichen Betreiber der Atomkraftwerke Energoatom aufgedeckt worden. Einer der Hauptverdächtigen soll ein Vertrauter von Präsident Selenskyj sein. Laut Medienberichten soll dieser Verdächtige die Ukraine bereits verlassen haben, möglicherweise, nachdem er einen Tipp aus den Behörden bekommen hat. Da wird jetzt sogar intern ermittelt. Wie groß ist das Korruptionsproblem im Umfeld von Präsident Selenskyj?
Klitschko: Das ist eine schwierige Frage. Wir alle erwarten in der Ukraine das Ergebnis der Ermittlungen, die im Moment laufen. Das ist auf jeden Fall nicht gut für die Ukraine. Das ist nicht gut für unsere Partner. Die größte Aufgabe für uns in der Ukraine ist es, in vielen Bereichen zu reformieren. Und eine der wichtigsten Reformen, das ist die Anti-Korruptions-Reform. Sehr viele Politiker machen einen Fehler, wenn sie beim Wiederaufbau an Straßen, Gebäude, Brücken denken. Aber an erster Stelle stehen Reformen in vielen Bereichen. Über eine Anti-Korruptions-Reform haben wir gesprochen. Dann ist da eine Polizeireform, eine Reform der Staatsanwaltschaft, auch in der Verwaltung müssen wir weitere Reformen machen.
WELT: Sie sagen, eine Anti-Korruptions-Reform ist wichtig für die Ukraine. Noch im Juli hatte ja Präsident Selenskyj versucht, über ein ganz eilig verabschiedetes Gesetz die Kontrolle über die Anti-Korruptions-Behörden zu erlangen. Dann gab es Straßenproteste, die Europäische Union hat interveniert, dann hat er das zurückgenommen. Wie sehr gefährdet so etwas die Glaubwürdigkeit auch der Ukraine? Sie sind so sehr auf Unterstützung angewiesen. Wie gefährlich ist das für den Kampf, den Sie führen?
Klitschko: Solche Skandale schaden dem Land und der Glaubwürdigkeit selbstverständlich sehr. Das war ein Tiefschlag. Besonders in der heutigen Situation, da wir gegen die Russen kämpfen, die unser Land okkupieren wollen. Und gleichzeitig müssen wir noch gegen Korruption kämpfen. Solche Fälle schaden der Ukraine sehr.
WELT: Weil Sie eben auch über die internationalen Partner gesprochen haben: Man weiß bei den USA nie so genau, wo sie gerade stehen. Sie selbst haben Präsident Trump viele Male getroffen, noch in Ihrer Zeit als aktiver Sportler, als Boxweltmeister. Wie haben Sie ihn erlebt? Ist das jemand, auf den man sich verlassen kann?
Klitschko: Er ist Präsident der Vereinigten Staaten. Der mächtigste Mann der Welt. Und auf jeden Fall hängt von ihm sehr viel ab. Wir haben schon über viele Kanäle Botschaften gesendet. Wir brauchen Unterstützung. Wenn wir über Demokratie sprechen, über Regeln, über die Unabhängigkeit von Nationen: Heute bricht Russland die Regeln. Wenn wir über diese Werte sprechen, müssen die Vereinigten Staaten auf der Seite der Ukraine stehen. Die Welt ist schwarz und weiß. Du bist für den Krieg oder gegen den Krieg. Du bist für Demokratie oder für den Autoritarismus. Man muss klar und deutlich mit unseren Partnern sprechen und sie überzeugen. Ich möchte mich ganz herzlich bedanken, im Namen unserer Bürger für die Unterstützung durch unsere Partner durch die europäischen Länder. Ohne eure Unterstützung können wir nicht überleben. Aber wir brauchen die Unterstützung der Vereinigten Staaten. Das betrifft die Verteidigungswaffenlieferung, das betrifft die finanzielle Unterstützung, und das betrifft weitere Sanktionen gegen Russland.
Das Interview wurde für eine bessere Lesbarkeit redigiert und leicht gekürzt.
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