Vertreter von Union und SPD haben nach einem mehrwöchigen Streit über das neue Wehrdienstgesetz eine grundsätzliche Einigung erzielt. Vorgesehen ist eine flächendeckende Musterung aller Männer ab 18 Jahren. Bei zu niedrigen Freiwilligenzahlen soll der Bundestag über eine sogenannte Bedarfswehrpflicht entscheiden können, bei der auch ein Zufallsverfahren zur Auswahl genutzt werden kann.
Für 9:15 Uhr ist ein Pressestatement der Fraktionen im Bundestag geplant.
Vorausgegangen war der Einigung ein Krisentreffen am Mittwochabend. Daran hatten Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), die Fraktionschefs von Union und SPD, Jens Spahn (CDU) und Matthias Miersch (SPD) sowie Verteidigungsexperten aus beiden Fraktionen teilgenommen. Erste Details wurden nach und nach bekannt. Ein gemeinsames Papier der Unions- und SPD-Fraktion liegt WELT vor.
Die Einigung im Überblick
Die flächendeckende Musterung: Künftig sollen alle jungen Männer eines Jahrgangs zur Musterung antreten. Das wird schrittweise eingeführt. Ab kommenden Jahr sollen alle 18-Jährigen einen Fragebogen, der Motivation und Eignung erfasst, erhalten. Für die Männer ist die Beantwortung verpflichtend.
Mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes beginnt dann die verpflichtende Musterung der ab dem 1. Januar 2008 geborenen Männer. Die Musterung soll schrittweise entsprechend dem Aufbau der Kapazitäten auf den ganzen Jahrgang ausgeweitet werden. Das erwogene Losverfahren in diesem Schritt entfällt.
Bedarfswehrpflicht: „Der Bundestag entscheidet durch Gesetz über die Einsetzung einer Bedarfswehrpflicht, insbesondere wenn die verteidigungspolitische Lage oder die Personallage der Streitkräfte dies erforderlich macht“, heißt es zum Pflichtanteil. Die Bedarfswehrpflicht diene der Schließung möglicher Lücken zwischen dem Bedarf der Streitkräfte und der tatsächlichen Zahl an Freiwilligen.
Auch ein Losverfahren ist hier möglich. „Übersteige die Zahl der Wehrpflichtigen eines Jahrgangs den Bedarf, kann nach Anwendung der Wehrdienstausnahmen und aller anderen Maßnahmen als ultima ratio ein Zufallsverfahren zur Auswahl angewendet werden. Einen Automatismus zur Aktivierung der Wehrpflicht wird es nicht geben“, heißt es. Um die Frage einer Pflicht hatte es Streit gegeben.
Sold und Status der Soldaten: Wer freiwillig dient, soll rund 2600 Euro brutto im Monat erhalten. Ab einer Verpflichtungszeit von einem Jahr wird auch ein Führerscheinzuschuss für Pkw und Lkw gewährt.
Beim Status der Soldaten im neuen Wehrdienst gibt es eine Änderung zu bisherigen Planungen. „Der freiwillige Wehrdienst als besonderes staatsbürgerliches Engagement bleibt erhalten. Ab zwölf Monaten Verpflichtungsdauer wird der Status Soldat auf Zeit (SAZ 1) eingeführt“, heißt es. Bisher war geplant, dass alle neuen Wehrdienstleistenden sofort Soldaten auf Zeit werden.
Die Zielmarken: Wegen der Bedrohung durch Russland und der deswegen veränderten Nato-Planungen soll die Bundeswehr um rund 80.000 auf 260.000 Männer und Frauen in der stehenden Truppe wachsen. Zudem soll es 200.000 Reservisten geben, deren Zahl vor allem mit dem neuen Wehrdienst gesteigert werden soll.
Die Steigerung der Soldatenzahl sieht konkrete Ziele vor: Beginnend 2026 soll die Bundeswehr 186.000 bis 190.000 Soldaten umfassen. Bis 2035 sollen es dann 255.000 bis 270.000 Soldaten sein. Parallel soll auch der Aufwuchs der Reserve erfolgen. Ausgehend von 70.000 bis 80.000 Reservisten im Jahr 2026 sollen es bis 2035 mindestens 200.000 Reservisten sein. Über die Einhaltung der Zielmarken soll das Verteidigungsministerium den Bundestag halbjährlich informieren, teilte Unionsfraktionschef Spahn mit. Sollte eine Marke verfehlt werden, könne der Bundestag über weitere verpflichtende Elemente beraten.
Offene Fragen in der Union: Was ist mit den Frauen?
In der kurzen Sitzung der Unionsfraktion, die kurzfristig nach der Einigung für Donnerstagmorgen einberufen worden war, gab es Zustimmung zu dem Kompromiss, aber auch Fragen. Offen ist, wie ein Ersatzdienst organisiert wird für jene, die gemustert, für wehrtauglich befunden und gegebenenfalls per Los einberufen werden, aber den Dienst mit der Waffe ablehnen.
Und ungeklärt ist nach Ansicht von Unionsabgeordneten auch, wie man Frauen zum Dienst verpflichten könnte. Der Ersatzdienst soll im Rahmen des Gesetzes zum Wehrdienst geregelt werden, komplizierter ist es hingegen, Frauen zum Dienst verpflichten zu wollen. Dafür müsste das Grundgesetz geändert werden, nötig ist dazu eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Abgesehen davon, dass offen ist, wie sich die SPD dazu verhält, gilt es als sicher, dass Linke und Grüne es ablehnen würden, Frauen in das Konzept zum Wehrdienst einzubinden. Damit ist das Thema auch aus Unionssicht vorerst vom Tisch.
Kein doppeltes Losverfahren
Pistorius hatte in seinem ursprünglichen Gesetzentwurf zum neuen Wehrdienst zunächst auf Freiwilligkeit gesetzt, um Rekruten für die Bundeswehr zu gewinnen. Die Union forderte Zielmarken für den Aufwuchs der Truppe und das Auswahlverfahren für den Fall, dass sich nicht ausreichend Männer und Frauen für einen freiwilligen Dienst melden.
Fachpolitiker von CDU/CSU und SPD im Bundestag hatten deshalb Mitte Oktober einen Kompromissvorschlag ausgearbeitet. Demnach sollte ein Losverfahren bestimmen, wer zur verpflichtenden Musterung muss. Finden sich dabei nicht genügend Freiwillige, sollten gemäß dem Bedarf der Bundeswehr per weiterem Losverfahren ausgewählte Männer zum Wehrdienst verpflichtet werden.
Minister Pistorius wiederum hatte dieses doppelte Losverfahren – das nun vom Tisch ist – abgelehnt und eine offizielle Verkündung der Vereinbarung durch die Parlamentsvertreter gestoppt. Strittig war auch der künftige Status der Wehrdienstleistenden – als freiwillige Wehrdienstleistende oder finanziell besser gestellte Soldaten auf Zeit.
Nach dem Willen von Pistorius soll das neue Wehrdienstgesetz Anfang 2026 in Kraft treten. Er pochte immer wieder auf eine flächendeckende Musterung aller jungen Männer eines Jahrgangs. Für ihn ging es dabei nicht nur um die aktuelle Aufstockung der Truppe, sondern auch darum, „im Verteidigungsfall wirklich handlungsfähig sein zu können und wirklich zu wissen, wer ist denn überhaupt in der Lage, eingezogen zu werden“, wie er erst am Montag noch einmal erklärt hatte. Dies müsse im Gesetz geregelt werden.
Die Union hatte bereits signalisiert, dass sie da mitmachen würde. Strittig war aber bis zuletzt, wie weiter verfahren werden sollte, wenn aus dieser Musterung nicht genügend Freiwillige hervorgehen.
Die Wehrpflicht war 2011 ausgesetzt worden, ist aber weiter im Grundgesetz verankert. Sie kann mit einfacher Mehrheit im Bundestag wieder eingeführt werden und tritt auch in Kraft, wenn der Bundestag den Spannungs- oder Verteidigungsfall feststellt.
Das Grundgesetz sieht die Wehrpflicht für Männer vor. Um die Frage, ob und wie Frauen eingebunden werden sollen, gibt es immer wieder Diskussionen, ohne dass eine Mehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes aktuell erkennbar wäre.
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