Im Aktivtreff Stellingen der Arbeiterwohlfahrt in Hamburg-Eimsbüttel erhofft Sahra Wagenknecht sich einen Rettungsanker. Zur Bundestagswahl im Februar gaben 696 der 1346 Wahlberechtigten ihre Stimme dort ab. 33 von ihnen stimmten für die Kleinstpartei Bündnis Deutschland, kein einziges Kreuz wurde laut amtlichem Endergebnis dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zuteil. Bundesweites Endergebnis: 4,9 Prozent BSW – 0,2 Prozent Bündnis Deutschland. Die beiden Parteien standen auf dem Wahlzettel nebeneinander.
Die Wagenknecht-Partei nennt das Ergebnis dieses Wahlbezirks 32118 eine „Extremanomalie“, eine besondere Auffälligkeit. Nur exakt 9529 Stimmen fehlten der erst im Januar 2024 gegründeten Partei zum Einzug in den Bundestag. Gleich nach der Wahl begann das BSW mit einer Prüfung der Auszähldaten und fand nach eigener Darstellung viele Hinweise auf eine falsche Auszählung. Die Partei legte Wahleinspruch beim zuständigen Wahlprüfungsausschuss des Bundestags ein. Der Aktivtreff Stellingen ist ein Mosaikstück der BSW-Forderung nach einer Neuauszählung der gesamten Bundestagswahl.
In einer eigenen Rechnung gibt das BSW an, 661 zusätzliche Stimmen durch genannte Fälle von „Extremanomalien“ zu erhalten. Hinzu kämen 883 Stimmen durch „starke“ Anomalien, also wenn das BSW-Ergebnis im Vergleich zum bundesweiten Ergebnis besonders niedrig und andere Kleinstparteien überdurchschnittlich gut abschnitten.
Unklar ist in beiden Fällen allerdings, ob Wähler schlicht versehentlich die „falsche“ Partei gewählt haben, es tatsächlich zu einem überdurchschnittlich guten Ergebnis für das Bündnis Deutschland oder eine andere Kleinstpartei kam – oder wirklich Zählfehler vorliegen. Im Ergebnis glaubt das BSW, eigentlich zusätzliche 32.973 Stimmen bei der Bundestagswahl erhalten zu haben. Für den Einzug in den Bundestag würde das genügen.
Nervös blickt die Wagenknecht-Partei entsprechend auf den zuständigen Wahlprüfungsausschuss. Nach mehrfachen öffentlichen Aufforderungen, dem Wahleinspruch des BSW endlich stattzugeben, ging Parteichefin Wagenknecht in die Offensive: Sie forderte den Rücktritt des Ausschussvorsitzenden Macit Karaahmetoglu (SPD), warf der schwarz-roten Koalition eine Verschleppung der Entscheidung vor, weil man um die Mehrheit von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) bange – oder unterstellte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), an ihrem wackeligen Bundestagsmandat festzuhalten.
Der Bundestag trete in einen „Bummelstreik“, sagte Wagenknecht kürzlich. In einem offenen Brief forderten am Freitag 22 Prominente, unter ihnen der Rapper Massiv, der Kabarettist Dieter Hallervorden und der Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck, eine Neuauszählung.
„Ich fordere den Wahlprüfungsausschuss des Bundestags auf, den Weg für eine Neuauszählung endlich freizumachen. Bei jeder anderen Partei hätte es, wie zuletzt bei der Kommunalwahl in NRW, schon längst eine Überprüfung gegeben“, sagt Wagenknecht WELT. Es gebe „systematische Zählfehler“. „Mit dem Zeitspiel im Wahlprüfungsausschuss wird versucht, eine unliebsame politische Konkurrenz loszuwerden und eigene Posten zu sichern. Dass auch die Opposition aus AfD, Grüne und Linke Seit’ an Seit’ mit der Koalition die Entscheidung auf die lange Bank schiebt, ist beschämend.“
Man sei es den 2,5 Millionen BSW-Wählern schuldig, für eine parlamentarische Vertretung zu kämpfen – notfalls wolle man bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Das Bundesverfassungsgericht forderte eine rasche Entscheidung. „Der Deutsche Bundestag hat über Wahleinsprüche binnen angemessener Frist zu entscheiden“, heißt es in einem Beschluss vom August. Genauere Vorgaben wurden aber nicht gemacht.
„Sollte der Bundestag tatsächlich eine Neuauszählung verhindern, wäre das ein schlechtes Zeichen für den Zustand der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“, so Wagenknecht. „Immerhin gehören korrekte Wahlergebnisse zu den Grundpfeilern jeder Demokratie.“
Der Ausschussvorsitzende Karaahmetoglu will sich diesen Vorwurf nicht gefallen lassen. Auf WELT-Anfrage betont Karaahmetoglus Büro, den Einspruch des BSW „priorisiert“ zu behandeln. Der Wahlprüfungsausschuss bereite die Entscheidung „in einem besonderen, gerichtsähnlichen Verfahren“ vor. Deshalb könne man keine näheren Angaben machen.
Man erarbeite derzeit eine Beschlussempfehlung. „In dieser wird der Ausschuss – vergleichbar mit einem Urteil – die wesentlichen Tatsachen und Entscheidungsgründe niederlegen“, teilt Karaahmetoglus Büro mit. In den vergangenen Monaten seien Stellungnahmen von Bundes- und Landeswahlleitern eingeholt worden, auf die das BSW wiederum habe antworten können. „Der Vorwurf der Verzögerung des Verfahrens durch den Ausschussvorsitzenden entbehrt damit jeder Grundlage.“
„Vorwürfe einer Verschleppung sind haltlos“, sagt die Union
Aus der SPD gibt es leise Rufe, das Verfahren doch mit etwas Tempo zu führen. Sebastian Fechner, stellvertretendes Ausschussmitglied der SPD, sagte bei „Berlin direkt“: Er hoffe, dass man „noch in diesem Jahr zu einem Abschluss kommen“ werde. Fechner betonte jedoch auch: „Von Blockade kann überhaupt keine Rede sein.“
Die Union geht ebenfalls noch von einer Beratung der Wahleinsprüche „in diesem Kalenderjahr“ aus. „Die Vorwürfe einer Verschleppung sind haltlos. Auch eine immer wieder vorgeworfene Verzögerung ist nicht gegeben, sondern vielmehr eine sorgfältige Bearbeitung der Einsprüche“, sagt Ausschussmitglied Carsten Müller (CDU). Doch er betont auch: „Daneben ist zu beachten, dass eine Neuauszählung nur angezeigt ist, wenn es valide Hinweise auf wahlergebnisrelevante Auszählungsfehler gibt, und nicht, wenn lediglich ein knappes Ergebnis vorliegt, das in sich aber fehlerfrei ermittelt worden ist.“
Die AfD wolle eine Neuauszählung unterstützen, wenn ausreichend Hinweise für die Zulässigkeit der neuerlichen Auswertung bestehen, sagt Ausschussmitglied Rainer Galla. Ein Problem bestehe allerdings darin, dass ausschließlich zulässig vorgetragene Wahlfehler die Überprüfung des Wahlprüfungsausschusses bestimmten. „Rein statistische Auffälligkeiten und die Vermutung, dass in einzelnen Wahlbezirken festgestellte Fehler auch anderswo oder gar bundesweit aufgetreten sind, begründen für sich jedoch noch keinen Wahlfehler und führen auch bei einem sehr knappen Wahlergebnis nicht grundsätzlich zur Neuauszählung“, sagt Galla zum BSW-Vorstoß.
Galla stimmt dem BSW zu, dass die Konstituierung des Ausschusses zu lange gedauert habe. Dies geschah erst am 27. Juni 2025, also vier Monate nach der Wahl. Ob dies Absicht war, könne er nicht beurteilen. „Faktisch kommt es allerdings einer Verschleppung gleich, weil der zeitliche Verzug nicht mehr aufgeholt werden kann“, so Galla zu WELT. Eine Entscheidung noch im laufenden Jahr werde zumindest von hohem Zeitdruck begleitet sein, da wenig Zeit zur gründlichen Prüfung der noch nicht vorliegenden Beschlussvorlage bestehe. „Falls noch im Dezember eine Entscheidung fallen sollte, wird diese vermutlich auf eine Zurückweisung der Einsprüche hinauslaufen“, vermutet Galla. „Eine stattgebende Entscheidung ohne mündliche Verhandlung mit Anhörung von Sachverständigen als Voraussetzung für die Anordnung einer teilweisen oder vollständigen Neuauszählung kann ich mir nicht vorstellen.“
Linke-Fraktionschef Sören Pellmann will eine Prüfung abwarten. „Der Wahleinspruch des BSW muss gründlich geprüft werden. Einem Ergebnis werde ich nicht vorgreifen.“ Allerdings äußert auch er sich skeptisch: Eine Neuauszählung halte er derzeit „für eher unwahrscheinlich. Zum einen wegen der rechtlichen Einordnung und zum anderen wegen der Mehrheiten im Ausschuss.“ Die Regierungskoalition hat eine Mehrheit im Ausschuss.
Auch Linda Heitmann, die für die Grünen im Ausschuss sitzt, betont, das Verfahren ernst zu nehmen. Das Ausschusssekretariat lege den Berichterstattern die Ausarbeitungen und Stellungnahmen vor, dann habe man zwei Wochen Zeit zur Prüfung, bevor es in den Ausschuss gehe. Nach WELT-Informationen ist das noch nicht geschehen. „Der Einschätzung der jeweiligen Berichterstatter*innen sowie auch den Ausschussberatungen wird nicht vorgegriffen“, so Heitmann zu WELT.
Die Berliner Staatsrechtsprofessorin Sophie Schönberger sieht keine Veranlassung für eine Neuauszählung. „Es gibt keine systematischen Wahlfehler. Das Wahlprüfungsverfahren ist nicht dafür da, zu sagen, vielleicht lassen sich noch irgendwo Stimmen finden, sondern es ist dafür da, um Wahlfehler aufzuspüren“, sagte Schönberger dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Es könne „minimale Zählfehler“ bei einem „Massenverfahren“ wie einer Bundestagswahl geben. Sie gehe von einer Abweichung vom amtlichen Endergebnis im Falle einer Neuauszählung aus, der Ausgang und die Richtung sei aber „völlig ungewiss“.
Politikwissenschaftler Eckhard Jesse wiederum forderte in einem „FAZ“-Gastbeitrag: „Eine bundesweite Neuauszählung ist angesichts des knappen Ausgangs und vieler Ungereimtheiten nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend geboten.“
Am vergangenen Montag verkündete Wagenknecht ihren Rückzug vom Parteivorsitz. Sie wolle sich künftig um die Ausformulierung der Grundwerte ihrer Partei kümmern, in einer eigens gegründeten Kommission. Ihr BSW solle bald in Bündnis Soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftliche Vernunft umbenannt werden. Sie freue sich aber, betonte die Noch-Vorsitzende, auf einen neuen Job: Nach der Neuauszählung werde sie „als Fraktionschefin für unsere Politik weiterarbeiten“ können.
Bis dahin bleibt dem BSW allerdings nur der Blick von außen. Jeden Montagabend wolle man mit Laternen auf der Reichstagswiese demonstrieren, kündigte die Partei an. Sahra Wagenknecht wird allerdings nicht dabei sein.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht.
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