Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um die drei Haupttäter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin. Der erste NSU-Anschlag fand allerdings bereits 1999 statt: Der Türke Serkan Yildirim überlebte eine Rohrbomben-Explosion in seinem Restaurant in Nürnberg. Heute arbeitet der 45-Jährige in einer Stanzerei in Baden-Württemberg, die Lebensmittelverpackungen herstellt.
WELT: Herr Yildirim, seit Anfang November steht Susann Eminger vor Gericht, eine enge Unterstützerin des NSU-Kerntrios. Ihre Rolle und mögliche Verbindungen zu früheren Taten sind jedoch umstritten. Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?
Serkan Yildirim: Jedes Mal, wenn ich mich damit beschäftige, ist es ein Zurückkehren in die Vergangenheit. Der Tag, an dem der Anschlag passiert ist, kommt wieder hoch. Das belastet mich psychisch enorm. Ich war bei dem Anschlag 18 Jahre alt, inzwischen bin ich 45, und ich kämpfe immer noch damit. Mein Fall wurde damals nach sechs Monaten eingestellt, als sei nichts mehr aufzuklären. Erst Jahre später wurde bestätigt, dass es sich um den ersten NSU-Anschlag überhaupt handelte. Danach begannen die Morde.
Wenn man auf das ganze NSU-Geschehen schaut, tut es weh. Vieles ist schiefgelaufen, auch in meinem Fall. Ich war beim ersten Prozess nicht einmal dabei, weil nicht klar war, dass ich ein NSU-Opfer bin. Und auch beim jetzigen Verfahren gegen Susann Eminger wurde mein Antrag als Nebenkläger abgelehnt. Mein Anwalt Engin Sanli hatte das beantragt, damit wir unsere Fragen stellen können. Fragen, auf deren Beantwortung wir seit Jahren warten. Aber ich durfte nicht einmal als Zeuge auftreten. Das ist frustrierend.
WELT: Welche Fragen?
Yildirim: Warum wir? Warum wurden ausgerechnet wir ausgewählt? Warum hat man so einen Hass auf Ausländer, dass man sie aus dem Leben reißt? Wir würden gerne die Hintergründe erfahren.
WELT: Der Staatsanwaltschaft hat ihre Nebenklage mit der Begründung nicht zugelassen, dass Susann Eminger und Beate Zschäpe erst ab 2007 Kontakt hatten, also erst nach dem Anschlag auf Sie. Was halten Sie von dieser Begründung?
Yildirim: Ich glaube eher, man möchte den Prozess schnell hinter sich bringen. Aber dadurch bleiben unsere Fragen unbeantwortet und auch die Frage nach einer angemessenen Entschädigung. Es wird auch immer gesagt, dass es nur ein Trio gegeben habe, und auf einmal gibt es immer mehr und mehr Personen, die dem NSU beigewohnt haben. Daher gehe ich stark davon aus, dass auch damals schon eine Verbindung zwischen Zschäpe und Eminger bestanden hat.
WELT: Lassen Sie uns den 23. Juni 1999, den Tag des Anschlags auf Sie, durchgehen. Wie haben Sie den Tag erlebt?
Yildirim: Ich war erst seit Kurzem Besitzer des Cafés „Sonnenschein“ in Nürnberg. Am Vorabend haben wir ein bisschen gefeiert, viele Menschen kamen und gingen. Die Bombe muss an diesem Abend in der Herrentoilette platziert worden sein. Ich habe an den Tagen zuvor immer regelmäßig gereinigt, deswegen wären mir Gegenstände, die dort nicht hingehören, aufgefallen.
Am Tag danach hatte ich eine kleine Diskussion mit meiner Mutter darüber, wer sauber macht und wer einkaufen geht. Gott sei Dank konnte ich sie überreden, dass ich sauber mache. Ich hätte nicht damit leben können, wenn meiner Mutter etwas passiert wäre. Ich habe wie immer zuerst den Thekenbereich sauber gemacht und schließlich auch die Toiletten. Unter dem Waschbecken stand ein Mülleimer, dahinter habe ich eine große, schwere Taschenlampe entdeckt. Aus Neugier habe ich auf den Knopf gedrückt. Der Druck, den ich gespürt habe, hat mein ganzes Leben verändert. Erst habe ich ein Pfeifen gehört, dann Blitze gesehen. Mit voller Wucht wurde ich bis zur Eingangstür geschleudert.
Die Nachbarn haben das natürlich mitbekommen und sind alle runtergekommen. Ich war voller Adrenalin und habe nur noch Blitze vor meinen Augen und das Blut an meinem Körper wahrgenommen. Die Nachbarn meinten, sie rufen einen Krankenwagen. Wegen der ganzen Aufregung habe ich dann gesagt: „Nein, ruft meine Mutter an.“
WELT: Welche Folgen hatte der Anschlag für Sie?
Yildirim: Einige körperliche, aber vor allem psychische Folgen. Ich habe mich danach komplett in meiner Wohnung eingebunkert und bin kaum noch rausgegangen. Ich wollte keinen Kontakt mehr mit irgendwem haben und hatte Angstzustände. Es war ein traumatischer Tag, der mein Leben komplett verändert hat: körperlich, psychisch und finanziell. Ich bin in eine Insolvenz hineingeschlittert und habe in Armut gelebt. Ich habe Nürnberg verlassen und mir einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Meine Geschichte habe ich niemandem anvertraut. Auch meine Frau hat erst 2018 davon erfahren.
WELT: In jenem Jahr kam in einem Prozess heraus, dass der NSU hinter dem Angriff auf Sie steckte. Was waren bis dahin Ihre Vermutungen, wer die Bombe in Ihrer Kneipe abgelegt haben könnte?
Yildirim: Es gab für mich überhaupt keinen Ansatzpunkt. Wie viele andere Angehörige von NSU-Opfern wurde auch ich in den Vernehmungen der Polizei beschuldigt, in einem falschen Milieu unterwegs gewesen zu sein oder die Bombe selbst gebaut zu haben, um Versicherungsbetrug zu begehen. Aber ich sprenge mich doch nicht selbst in die Luft. Wie dumm wäre das?
Ich konnte kaum glauben, dass ich anstelle des Geschädigten plötzlich als Verbrecher dargestellt wurde. Abgesehen von meiner Familie habe ich niemandem mehr vertraut. Ich wusste nicht, wer mich töten wollte, und habe in ständiger Angst gelebt, dass das noch mal passieren könnte.
WELT: Wie haben Sie genau davon erfahren, dass der NSU hinter der Tat steckte?
Yildirim: 2013 wurde ich von der Polizei vorgeladen, mir wurden mehrere hundert Bilder von Personen gezeigt, und ich wurde gefragt, ob ich irgendwen davon kenne. Eine Frau habe ich wiedererkannt. Ich habe sie an dem Abend der Eröffnung in der Kneipe gesehen. Vielleicht war sie kurz mit anderen Männern drin, vielleicht war sie allein da. Ich erinnere mich nicht an Details. An dem Abend waren viele Menschen da. Nicht nur Türken, sondern auch Deutsche. Der Anschlag hätte jeden treffen können. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass die Frau auf dem Foto Susann Eminger war. Ein Fernsehteam des BR, die über den NSU eine Doku gedreht haben, hat mir das erzählt.
WELT: Das haben Sie nicht von der Polizei erfahren?
Yildirim: Nein, man hat mir 2013 auch nicht gesagt, dass die Bilder, die mir gezeigt wurden, im Zusammenhang mit NSU-Ermittlungen stehen. Für mich war aber vor allem wichtig, dass ich endlich Aufklärung bekommen habe. Das Schlimmste ist, wenn man überhaupt keine Informationen hat.
WELT: Sie werfen der Polizei vor, schon direkt nach Ihrem Fall Fehler gemacht zu haben. Was konkret bemängeln Sie?
Yildirim: Man hat 1998 in einer Garage von Rechtsextremisten das gleiche Sprengstoff-Pulver gefunden, das später auch bei dem Anschlag auf mich verwendet wurde. Einen Zusammenhang hat aber keiner hergestellt. Wäre in meinem Fall richtig ermittelt worden, hätte man die späteren Morde möglicherweise verhindern können. Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle NSU-Opfer. Die Tat wurde als fahrlässige Körperverletzung eingestuft. Obwohl eindeutig zu erkennen war, dass hier eine Straftat von erheblichem Maß vorliegt. Durch die falsche Zuschreibung der Tat wurden auch sämtliche Asservate vernichtet. Es wurde nicht nach rechts ermittelt. Obwohl auch hier eindeutige Hinweise vorlagen.
Wir müssen an jeder Stelle um unser Recht und die Anerkennung unseres Leids kämpfen. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ich bin ein Teil der Gesellschaft. Aber ich glaube schon, dass die Versäumnisse auch damit zu tun haben, dass wir Migranten sind.
WELT: Sind Sie enttäuscht vom Staat?
Yildirim: Natürlich. Wir Migranten werden hier mit anderen Augen gesehen. Das war schon unter Angela Merkel so. Sie hat uns eine komplette Aufklärung der NSU-Fälle versprochen. Was haben wir bekommen? Kaum etwas. Bei Friedrich Merz wird es auch nicht besser werden. Und mit der AfD wird es noch schlimmer für Migranten werden.
Ich kann Migranten verstehen, die vor Krieg fliehen und hierherkommen. Natürlich verhalten sich manche auch nicht gut. Aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren. Unsere Omas und Opas sind als Gastarbeiter hergekommen und haben Deutschland mit aufgebaut. Und jetzt werden wir abgestempelt wegen ein paar Menschen, die sich nicht richtig verhalten.
WELT: Woran machen Sie es fest, dass Migranten in Deutschland anders behandelt werden?
Yildirim: Das beginnt schon auf dem Amt. Wenn mir ein Mitarbeiter sagt: „Sie müssen das Dokument schon richtig lesen“, dann frage ich mich: Warum spricht er so mit mir? Ich kann Deutsch, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Trotzdem werde ich manchmal behandelt, als wäre ich neu im Land oder würde die Sprache nicht verstehen.
Oder ein anderes Beispiel: Ich sage in einem Laden freundlich „Guten Morgen“, und der Mitarbeiter schaut mich nur schief an. Ich glaube, wegen meines Bartes und meines Aussehens. Da merke ich sofort: Der hat ein Vorurteil. Natürlich gibt es viele Menschen, die ganz normal und respektvoll sind. Aber solche Situationen passieren eben auch. Man wird schnell in einen Topf geworfen und angeschaut, als komme man aus einem anderen Universum. Obwohl ich mich anpasse, arbeite, Steuern zahle, mein Leben hier führe wie jeder andere. Manche geben mir trotzdem das Gefühl: Der gehört nicht richtig dazu.
WELT: Wie könnte man das gesellschaftlich ändern?
Yildirim: Man müsste mehr darüber reden. Mehr den Menschen zuhören und nicht einfach wegschauen.
WELT: Könnten Sie sich denn vorstellen, irgendwann einmal mit Beate Zschäpe oder Susann Eminger persönlich zu sprechen?
Yildirim: Früher hätte ich mir gewünscht, mit den Tätern zu sprechen, heute nicht mehr. Mit so einer Person an einem Tisch zu sitzen, jemandem, der so viele Menschenleben ausgelöscht hat, das ist nicht mein Niveau. Ich empfinde Wut und Hass, denn sie haben Familien zerstört. Dass Beate Zschäpe jetzt ein Aussteigerprogramm machen will, fühlt sich für uns wie ein Schlag ins Gesicht an. Trotzdem kämpfen wir weiter. Auch wenn wir viele Antworten wohl nie bekommen werden, weil die Zeit vergangen ist und viele Zeugen nicht mehr greifbar sind.
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.
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