Franziska Brantner, 46, ist seit November 2024 Co-Bundesvorsitzende der Grünen. In der Zeit der Ampel-Regierung war sie Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium unter Robert Habeck (Grüne). Sie zählt zum Realo-Flügel ihrer Partei und ist seit 2013 Mitglied des Bundestags.

WELT: Frau Brantner, was muss Kanzler Friedrich Merz (CDU) jetzt tun, damit Europa zur Gestaltungskraft wird, wenn es um die Zukunft der Ukraine geht?

Franziska Brantner: Er sollte alles daransetzen, den EU-Beitrittsprozess für die Ukraine maximal zu beschleunigen. Spiegelbildlich müsste die Ukraine ihren Reformprozess beschleunigen. Zwei Dinge könnte Merz sofort angehen: die russischen Milliarden, die als Frozen Assets in der EU liegen, für die Ukraine nutzbar machen – und die Unterstützung für die Luftabwehr noch einmal ausbauen und beschleunigen.

Wir haben extra die Schuldenregeln so geändert, dass Deutschland die Ukraine besser unterstützen kann. Die Bundesregierung macht davon bisher keinen Gebrauch. Jede Nacht sterben in der Ukraine Menschen, jede Nacht wird Energieinfrastruktur zerstört, nach jeder Nacht frieren mehr Menschen. Wir können mehr tun, das aufzuhalten. Zeigen wir Kiew: Wir stehen an eurer Seite.

WELT: Bis wann sollte der Beitritt erfolgen?

Brantner: Das hängt von der jeweiligen Reformbereitschaft ab. Was wir dringend brauchen, im Grunde schon seit vorgestern, ist eine europäische Verteidigungsunion. Grundlage dafür können Artikel 21 und 42 der EU-Verträge sein. Aber im Zweifel muss man neue Strukturen schaffen, die nicht auf Einstimmigkeit beruhen. Ich fordere das seit Monaten und Jahren – seit klar ist, dass wir Europäer uns nicht mehr darauf verlassen können, dass die Amerikaner uns im Zweifel schon retten werden.

Für mich als Transatlantikerin ist das sehr schmerzhaft, aber es ist die Realität: Wir sind jetzt der Westen. Die Verteidigungsunion mit der Ukraine jetzt schon zu beschließen als Vorstufe zur EU-Mitgliedschaft, wäre ein starkes Zeichen, dass wir dieser Verantwortung in der Welt nachkommen und auch für die Sicherheit der Ukraine nach einem fairen Friedensschluss einstehen.

WELT: Deutschlands Stärke ist auch eine Frage der Wirtschaftskraft, also der Gestaltung der Sozialsysteme. Wer soll bei der Rente die Zeche zahlen: die Jungen, die Alten, die Reichen …?

Brantner: Ich kann nur sagen: Das Paket von Schwarz-Rot können wir nicht mittragen. Es führt zu starken Mehrbelastungen ohne eine einzige Entlastung. Aber wir können uns auch nicht der einseitigen Kritik der Jungen Gruppe in der Union anschließen, die Milliardenausgaben durch die Haltelinie kritisiert, aber zur Mütterrente schweigt, die allein fünf Milliarden Euro pro Jahr verschlingt, ohne die Altersarmut von Frauen zu verringern.

Das Problem ist viel größer. Ein großer Gamechanger, den wir in der Ampel noch fast hinbekommen hätten, wäre eine kapitalgedeckte Säule nach skandinavischem Vorbild. Außerdem sagen wir klar: Die Rente mit 63 gehört auf den Prüfstand.

WELT: Also: Alle müssen mehr arbeiten?

Brantner: Jeder weiß, dass wir in einer Gesellschaft, in der sich die Lebenserwartung in Richtung der 100 verschiebt, über solche Fragen nachdenken müssen.

WELT: Unsere Stärke hängt auch davon ab, ob und wie die Industrie die grüne Transformation bewältigt. Auf Ihrem Parteitag am Wochenende wollen Sie ein Festhalten am derzeitigen CO-Reduktionspfad der EU beschließen – während die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur mit ihrer Chemieindustrie mehr Spielräume einfordert. Warum übernehmen Sie nicht diese Praxis-Erfahrung?

Brantner: Wir sind uns alle mit der Kommissionspräsidentin einig, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden soll. Gleichzeitig muss Europa seine Wettbewerbsfähigkeit verteidigen. Dazu benötigen wir einen funktionierenden Grenzschutz, der die fehlende CO-Bepreisung im nichteuropäischen Ausland ausgleicht. Dann können Dumpingpreise aus China unsere Industrie nicht mehr unter Druck setzen.

WELT: Im Neubaur-Papier geht es um mehr Spielraum beim CO-Ausstoß, nicht um Import-Schutz.

Brantner: Der wirksame Schutz vor unfairen Importen ist Grundvoraussetzung dafür, dass Deutschlands Industrie die Zeit bekommt, sich klimafreundlich zu transformieren. Viele Unternehmen haben sich bereits auf den Weg gemacht, andere halten sich zurück, weil die Bundesregierung unklare Signale setzt und sie allein lässt. Zum Glück kommt jetzt der Industriestrompreis, den wir Grüne vorgeschlagen haben. Nur mit fairen Strompreisen und einem funktionierenden Grenzschutz können wir unsere Wirtschaft vor unfairen Wettbewerbern schützen.

Beispiel China: Die Kommunistische Partei macht Wirtschafts-Geopolitik und setzt auf Klimatechnologie als Geschäftsmodell. China will, dass Deutschland und die ganze Welt irgendwann von E-Autos, Solartechnik und Batterien aus China abhängig sind. Die Partei definiert im Fünf-Jahres-Plan klar, wann, wie und wo sie uns überholen will. Deshalb müssen wir gleichzeitig klimaneutral werden und uns vor unfairem Wettbewerb schützen, der den Wandel für unsere Unternehmen unprofitabel macht.

WELT: Spielt unsere Klimapolitik nicht den Chinesen akut in die Hände, weil wir unsere Technik für die Energiewende dort einkaufen – während China sich fürs Wachstum massiv fossile Energie gönnt? In China sind rund 95 Prozent der global im Bau befindlichen Kohlekraftwerkskapazität; 2024 gab es dort einen Zehn-Jahres-Rekord beim Kohlekraftwerksbau.

Brantner: Auf der Weltklimakonferenz in Belém haben sich über 80 Staaten zum Ausstieg aus den fossilen Energien bekannt. Deutschland steht nicht allein. Auch der CO-Ausstoß der Chinesen stagniert und ist in einigen Bereichen sogar rückläufig. China verdient heute schon mit dem Export von Green Tech mehr als die USA mit dem Export von fossilen Energien. Es ist also klar, wohin die Reise geht.

Wenn Sie von Abhängigkeit von China sprechen, dann besorgt mich vor allem die Abhängigkeit in der Informationstechnik, für und von Chips etwa, und die Rohstofflieferketten in sicherheitsrelevanten Bereichen. Wenn wir hier komplett in der Abhängigkeit bleiben, dann helfen uns am Ende die besten Panzer nicht.

WELT: Sollte Deutschland verstärkt eigene Rohstoffe wie Seltene Erden fördern?

Brantner: Absolut, für den heimischen Abbau von Lithium habe ich mich immer eingesetzt. Vor allem aber müssen wir besser darin werden, Seltene Erden und kritische Rohstoffe zu recyceln. Für Rohstoffe, von denen wir am meisten abhängig sind, kommen wir nur auf eine Recyclingquote von einem Prozent! Muss man sich das auf der Zunge zergehen lassen: 99 Prozent landen im Müll.

WELT: Was ist mit Erdgas? Auch hier sind wir abhängig, hätten aber eigene Vorkommen bei Borkum, die eine Fachbehörde der niedersächsischen Landesregierung zum überragenden öffentlichen Interesse erklärt hat.

Brantner: Die Landesregierung sagt da etwas anderes. Hier geht es um ein kleines Gasfeld im extrem fragilen Unesco-Weltnaturerbe-Gebiet Wattenmeer. Wollen wir das zerstören für eine Menge an Erdgas, die insgesamt nur einen Bruchteil des jährlichen Verbrauchs in Deutschland deckt? Zumal wir ja einen breiten politischen Konsens haben, dass wir bis 2045 klimaneutral sein wollen. Dann brauchen wir kein Gas mehr.

WELT: Auf mittlere Sicht brauchen wir aber noch sehr viel Gas; laut Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) liegen unter Deutschland bis zu 2,3 Billionen Kubikmeter per Fracking erschließbares Schiefergestein-Erdgas. Das könnte uns nach Aussage der BGR-Wissenschaftler auf Jahrzehnte versorgen. Müsste man darüber nicht wenigstens diskutieren?

Brantner: Fracking ist in Deutschland aus gutem Grund verboten. Es verschmutzt das Grundwasser und gefährdet das Klima. Schauen Sie sich die Schäden in den Fracking-Regionen der USA an, und Sie wissen warum.

WELT: Wissenschaftler würden da widersprechen, auch weil Fracking in Grundwassergebieten von vornherein ausgeschlossen wird. Sollte man Fracking zur Abhängigkeits-Reduktion nicht in Erwägung ziehen?

Brantner: Fracking ist ökologisch und ökonomisch ein Himmelfahrtskommando. Es würde viele Jahre bis zur ersten Förderung dauern. Bis 2045 ist dann aber die Zeit zu kurz, um noch Gewinne zu machen. Gas aus den USA oder Norwegen ist nicht die schönste aller Lösungen. Aber die beste, die wir im Moment haben.

WELT: Die Umweltgefahren von Fracking wurden immer stark übertrieben; der Import von norwegischem oder amerikanischem Fracking-Gas dagegen ist klimaschädlicher, als eine Förderung hierzulande wäre.

Brantner: Sorry, aber Fracking ist null umweltfreundlich. Da werden Unmengen von Methan freigesetzt, Boden und Grundwasser können kontaminiert werden, der Grundwasserverbrauch ist immens. Fragen Sie mal die Bauern in Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Die werden Ihnen was husten. Im Gegenteil, wir sollten so schnell es geht auf grünen Wasserstoff umsteigen.

WELT: Müssten die Grünen in Zeiten von Klimawandel und Wirtschaftskrise nicht auch ihre Ablehnung von Gentechnik in der Landwirtschaft überwinden, die zum Beispiel hilft, pilz- und wetterresistente Pflanzen zu züchten oder Schweine gegen Schweinepest immun zu machen?

Brantner: Ich bin immer dafür, dass wir offen sind in der Abwägung von Schaden und Nutzen. Vor allem bin ich bin dafür, dass wir die vorhandenen Potenziale der Natur gut nutzen. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel fördern die Grünen als Teil der Landesregierung den Anbau pilzresistenter Rebsorten aus klassischer Züchtung. Die kommen mit wesentlich weniger Pestiziden aus als herkömmliche Sorten – und das ganz ohne Gentechnik.

Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.

Axel Bojanowski ist Chefreporter Wissenschaft bei WELT. In seinem Buch „Was Sie schon immer übers Klima wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten“ erzählt er in 53 Geschichten vom Klimawandel zwischen Lobbygruppen und Wissenschaft.

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