Ein Meer aus Blumen und Gestecken mit Trauerflor, Fotos des Verstorbenen, Plüschtiere und von Kindern gemalte Bilder. Ein Lichtermeer aus brennenden Grabkerzen mit Aufschriften wie „Du lebst weiter in unserem Herzen“. Zu den melancholischen Klängen eines Streichquartetts singt ein komplett in schwarz gekleideter Chor.

Auf den ersten Blick wirkt die Szene wie die Trauerkulisse für einen geliebten Angehörigen, der gerade aus dem Leben geschieden ist. Doch sie spielt nicht in einer Trauerhalle, sondern an einer belebten Berliner Straße vor einem dekorierten Bauzaun direkt an der CDU-Parteizentrale in Berlin. Die Gäste sind keine Verwandten, sondern etwa drei Dutzend Aktionskünstler, Politiker, Omas und Opas gegen Rechts sowie Medienvertreter. Und die vermeintliche Trauerfeier ist eine künstlerische Inszenierung, die maximal provoziert.

Das Künstlerkollektiv Zentrum für politische Schönheit (ZPS) hat die menschengroße Bronzestatue von Walter Lübcke mit Blick auf die CDU-Zentrale errichtet. Der CDU-Politiker wurde in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf seiner Terrasse im nordhessischen Wolfhagen-Istha von dem Rechtsextremisten Stephan E. ermordet – aus dessen Ablehnung von Lübckes liberaler Haltung zur Flüchtlingspolitik. Der Täter verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er soll die AfD etwa im Wahlkampf unterstützt haben. Nach Lesart des ZPS dient die Lübcke-Statue als Mahnmal, die Brandmauer nicht einreißen zu lassen.

Doch bereits vor der offiziellen Eröffnung mit Stefanie Remlinger, der Bezirksbürgermeisterin der Grünen in Berlin-Mitte, am Mittwoch löste das „Mahnmal gegen die AfD“ breite Empörung aus. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) nannte die Aktion unanständig und widerlich. „Als ich gestern davon erfahren habe, konnte ich nicht glauben, dass ein Bezirk so eine Installation genehmigt.“ Die Inszenierung des ZPS würde bewusst auf Eskalation und gesellschaftliche Spaltung abzielen. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nennt die Lübcke-Nachbildung vor seiner Parteizentrale „vollkommen geschmacklos“.

Unterstützung kommt hingegen vom Bezirksamt Berlin-Mitte, das die Aktion für zwei Jahre genehmigt hat – mit ausdrücklicher Unterstützung von Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger. „Ich freue mich“, sagt die Grünen-Politikerin in ihrer Eröffnungsrede und behauptet. „Deutschland ist per Grundgesetz ein Kunst- und Kulturförderstaat.“ Die Bedeutung eines Kunstwerks sei nicht immer eindeutig, auch wenn der Künstler etwas anderes intendierte. Wenn das Kunstwerk Debatten auslöst, sei das doch gut.

Die Bezirksbürgermeisterin lobt das ZPS für sein politisches Engagement. „Sie machen politische Aktionskunst, die den Finger in die Wunde legt – auch wenn man sich manchmal fragt, ob es nicht eine Nummer kleiner geht.“ Sie selbst habe „Lust auf eine strittige Debatte“. „Ich hoffe, dass sich viele Menschen provoziert fühlen.“

Möglicherweise droht dem ZPS wegen seines „Walter Lübcke Memorials“ aber auch juristischer Ärger. Die Stadtmarketingagentur „visitBerlin“ moniert die missbräuchliche Verwendung ihres alten Logos, das ohne Einverständnis auf der zum Denkmal gehörigen Informationstafel abgebildet ist. Auf der können interessierte Passanten auch lesen, dass Friedrich Merz (CDU) nach dem Mord an Lübcke 17 Tage gebraucht habe, bis er sich öffentlich geäußert habe. Warum Merz, damals weder Bundeskanzler noch mit einem politischen Amt, das hätte tun sollen, wird nicht erklärt.

„visitBerlin“ betonte, nicht der Absender der Aktion zu sein und sie auch nicht von der Marketingagentur unterstützt zu werden. Das betreffende Logo sei missbräuchlich verwendet worden und entspreche nicht dem aktuellen Auftritt des Unternehmens. „VisitBerlin bittet die Künstlergruppe um Unterlassung und behält sich juristische Schritte vor“, erklärt die Agentur.

Walter Lübcke sei nun Teil des „Stadtbildes“

Von Kritik oder gar dem Vorwurf der Provokation wollen die beteiligten Akteure unterdessen nichts hören. Sie nutzen die Eröffnungszeremonie für moralische Wehklagen in Richtung CDU und berichten vom leidvollen Druck, in der heutigen Zeit noch zu den „aufrechten Demokraten“ zu gehören. „Wir Künstler leben in einer Traumwelt“, beginnt Stefan Pelzer vom ZPS vordergründig selbstkritisch, um dann in Anlehnung an den Bürgerrechtler Martin Luther King von seinem eigenen Traum zu berichten, dass auch nur ein einziger Unions-Politiker einmal das Lübcke-Mahnmal besucht und seinem ermordeten Parteikollegen gedenkt.

Alle seien sie von der Union eingeladen gewesen, doch keiner sei gekommen. „Bis heute hat hier niemand von der CDU auch nur eine Blume abgelegt. Was kostet es euch?“, fragt Pelzer unter Applaus der Omas gegen Rechts in Richtung CDU-Parteizentrale. Die Union würde die Aktion in den Medien lieber als geschmacklose Provokation verteufeln, anstatt sich mit der Gefahr durch die AfD zu beschäftigen, mutmaßt er. „Wieso empfindet ihr diese Statue als Provokation?“, fragt auch der Grünen-Politiker Vasili Franco, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, in dramatischem Ton und blickt nach oben zur CDU-Zentrale. Lübcke sei nun „Teil des Stadtbildes, und es ist genau richtig, dass er hier steht“.

Orkan Özdemir, SPD-Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, sagt über den Ermordeten und seine Partei: „Walter Lübcke war ein anständiger Konservativer. Das ist es, was heute fehlt.“ Er würde ja „auch gerne auf Konservative verzichten. Das tut weh, aber wir wissen, dass wir den Kampf nicht ohne sie gewinnen können.“ In diesem Zusammenhang verweist Özdemir auf einen gemeinsamen Antrag für ein AfD-Verbotsverfahren, den CDU und SPD am Donnerstag ins Berliner Abgeordnetenhaus einbringen wollen.

Darin bekennen sich CDU und SPD zur „wehrhaften Demokratie“. Dies beinhalte, „gegen extremistische, verfassungsfeindliche Vereinigungen und Parteien“ vorzugehen. „Wir sind Komplizen der Linksextremisten, weil wir zivilen Ungehorsam unterstützen“, sagt Özdemir über den Kampf gegen die AfD.

Die Partei plane einen Regierungssturz „durch den bewaffneten Adel“, behauptete Grünen-Politiker Franco. Dann dürften sich nur noch „Blutdeutsche“ sicher fühlen. In Gießen habe sich bereits gezeigt, dass die neue Parteijugend Generation Deutschland der „neue Schlägertrupp“ der AfD sei, sagte er. In Gießen hatten Antifa-Mitglieder einen AfD-Bundestagsabgeordneten angegriffen und Demonstranten aus dem linken Spektrum Journalisten bedrängt.

Bis zum Freitag, so kündigt es das ZPS an, soll auch der Bus „Adenauer SRP“, der bei der Störung des ARD-Sommerinterviews mit Alice Weidel deutschlandweit Berühmtheit erlangte, zurück aus Gießen sein. Er soll dann für die musikalische Untermalung bei der Gedenkveranstaltung sorgen, die ab 16 Uhr zu Ehren von Walter Lübcke an dem neuen Denkmal stattfindet.

Friedman: CDU soll froh sein, Lübcke Ehre erweisen zu können

Angekündigt hat sich auch das ehemalige CDU-Mitglied Michel Friedman. Eine Anfrage von WELT zu seiner Teilnahme ließ der Publizist unbeantwortet. In dem Podcast „Fazit“ vom Deutschlandfunk verteidigt der 69-Jährige die Aktion aber.

„Ich verstehe die Kritik nicht“, sagte Friedman. Lübcke sei sein Vorbild und er verstehe nicht, warum das erste Opfer mit politischem Mandat, das von einem Rechtsextremisten, der sich wiederum auf die AfD berufen habe, so schnell vergessen worden sei. Die Skulptur vor der CDU-Parteizentrale sei gar keine Provokation. Die CDU solle stattdessen froh sein, „so einem Mann die Ehre erweisen zu können“.

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