Auch 14 Jahre nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ haben die Hinterbliebenen der Opfer viele Fragen. Welche Mitwisser und Helfer waren an den Tatorten der rassistisch motivierten Mordserie? In welche neonazistischen Netzwerke und Strukturen waren die Terroristen eingebunden? Woher kamen 18 von 20 beim NSU gefundenen Waffen, bei denen die Herkunft bis heute nicht geklärt ist? Welche Taten hätten mit dem Wissen von V-Leuten und des Verfassungsschutzes verhindert werden können? Wo hat sich die Rechtsterroristin Beate Zschäpe vier Tage lang auf ihrer Flucht aufgehalten, bevor sie sich der Polizei stellte?
Mandy und Michalina Boulgarides sowie Gamze Kubaşık sind am Mittwoch nach Dresden gekommen. Die Töchter von zwei Opfern des NSU, Theodoros Boulgarides und Mehmet Kubaşık, sitzen im Zuschauerraum des Oberlandesgerichts, als Zschäpe am Morgen von zwei Justizbeamten in den Hochsicherheitssaal geführt wird. „Die Geschichte, die uns über den NSU erzählt wurde, war nie vollständig“, ließ Gamze Kubaşık sich vor der Aussage vom Blog „NSU Watch“ zitieren. „Und solange nicht alle Täter und Unterstützer benannt und zur Verantwortung gezogen werden, kann es keinen Schlussstrich geben für uns, für dieses Land, für die Wahrheit.“
Zschäpe sagt an diesem Tag als Zeugin aus, in einem Prozess gegen ihre ehemals beste Freundin, die langjährige Neonationalsozialistin Susann Eminger. Eminger ist wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung sowie Beihilfe zur räuberischen Erpressung angeklagt. Sie hatte Zschäpe ihre Identität geliehen, etwa durch das Überlassen einer Krankenkassenkarte und mehrerer Bahncards. Mehrmals im Monat besuchte sie Zschäpe.
In dem Prozess geht es um die Frage, ob Eminger während ihren Unterstützungshandlungen von den Morden des NSU wusste. Davon geht die Bundesanwaltschaft aus. Kann man ihr das nachweisen, drohen der 43-Jährigen bis zu zehn Jahre Haft. Emingers Mann André war im Juli 2017 vom Oberlandesgericht München zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden. Die Bundesanwaltschaft hatte zwölf Jahre gefordert.
Zschäpe selbst wurde damals nach über vierjähriger Verhandlung wegen Mordes, besonders schweren Raubes und zahlreicher weiterer Delikte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Bereits seit ihrer Festnahme im November 2011 befand sie sich in Untersuchungshaft. Da das OLG München die „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt hatte, scheidet eine vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren aus. Im kommenden Jahr teilt der Senat Zschäpe die Mindestverbüßungszeit mit. Auf die Haftzeit könnte es sich positiv auswirken, wenn die Terroristin über ihre Kameraden auspackt und sich von ihrem neonazistischen Gedankengut distanziert.
In diesem Jahr wurde Zschäpe in ein Aussteigerprogramm aufgenommen. Bei Hinterbliebenen sorgte dieser Schritt für scharfe Kritik. Sie vermuten, dass Zschäpe einen Ausstieg lediglich vorgibt, um früher aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Im Münchner Prozess hatte sie zur Aufklärung des NSU-Komplexes nichts beigetragen und sich als unwissende Hausfrau dargestellt. „Ihre Schutzbehauptungen wurden aber schon während des Prozesses widerlegt“, sagte Opferanwältin Antonia von der Behrens am Dienstag im „taz“-Interview. „Dafür, dass sie sich jetzt grundlegend anders verhält, gibt es keine Hinweise. Sie erhofft sich Vorteile für das Strafvollstreckungsverfahren.“
Tatsächlich belastet Zschäpe ihre engste Vertraute während der Zeit im Untergrund am Mittwoch nur damit, was sich kaum abstreiten lässt – dass sie von Eminger die Krankenkassenkarte, Bahncards und Kleidung auf der Flucht bekam. Den schwersten Vorwurf der Bundesanwaltschaft – dass Eminger, während sie Zschäpe half, Kenntnis von den Morden hatte – bestreitet Zschäpe. Neue und relevante Informationen zu Mitwissern und Mittätern liefert sie an diesem Tag nicht. Hauptsächlich spricht sie über das Leben im Untergrund, im Trio mit den Neonazis und Serienmördern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich nach einem gescheiterten Überfall im November 2011 erschossen.
Auf die Frage, warum sie zu Eminger nach ihrer Inhaftierung keinen Briefkontakt gehabt habe, antwortet Zschäpe, sie habe ein „schlechtes Gewissen“ gehabt. „Man hat ihr nicht alles gesagt gehabt“, sagt sie. „Für mich war nicht die Erwartung, dass allein fein für sie ist, wie alles gelaufen ist. Wie ihre Familie belästigt wird. Wie wir alle belästigt wurden eigentlich.“ Ihre eigene Familie sei durch „Pressevertreter massiv belästigt“ worden.
Sie habe das Urteil „vollumfänglich angenommen“, behauptet sie an anderer Stelle. Ihr Tatbeitrag sei es gewesen, die „familiäre Note“ in das Zusammenleben mit Mundlos und Böhnhardt zu bringen. „Ich war, glaube ich, der Eckpfeiler, der das Zusammenleben möglich gemacht hat“, sagt sie. Über die neonazistische Ideologie, die sie mit Mundlos und Böhnhardt sowie ihren Unterstützern verband, verliert sie hingegen kein Wort.
„Was fühlen Sie, wenn Sie an die Angehörigen der Opfer denken?“, fragt die Vorsitzende Richterin Simone Herberger. „Ich schäme mich“, antwortet Zschäpe. Kurz darauf stellt sie sich allerdings erneut als Opfer dar. Ihre Konzentrationsfähigkeit, Belastbarkeit und ihr Erinnerungsvermögen sei im Gefängnis geschwächt worden. „Das ist so ein richtiger Haftschaden.“
Neun Morde und drei Sprengstoffanschläge
Susann Eminger habe lediglich gewusst, dass das Trio zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Banküberfälle begehe. „Warum nur die Raubüberfälle, wenn Sie das Vertrauen hatten?“, will die Richterin wissen. „Das andere ist ja schon …“, antwortet Zschäpe. „Das möchte ich nicht miteinander vergleichen. Das Andere ist was ganz anderes.“ Das „Andere“, das Zschäpe nicht aussprechen will, sind neun Morde an migrantischen Gewerbetreibenden und einer Polizistin sowie drei Sprengstoffanschläge, zwischen den Jahren 1999 und 2007.
Die Richterin Heuberger geht die Morde am Mittwoch der Reihe nach durch. Abdurrahim Özüdoğru, ein Fabrikarbeiter und Änderungsschneider, der am 13. Juni 2001 in Nürnberg durch zwei Kopfschüsse ermordet wurde? Zschäpe schüttelt den Kopf, blickt nach unten. „Wie wurden die Opfer ausgewählt?“, fragt die Richterin. „Das war aufgrund der Herkunft“, sagt Zschäpe. Habil Kılıç, ein Obst- und Gemüsehändler, ermordet am 29. August 2001 in München, ebenfalls durch zwei Kopfschüsse? „Das war alles eine relativ gleichbleibende Situation“, sagt die Zeugin.
Mehmet Turgut, ein Verkäufer in einem Dönerimbiss, der am 25. Februar 2004 im Alter von 24 Jahren in Rostock ermordet wurde? „Die Namen sind mir jetzt damals nicht so geläufig gewesen“, sagt Zschäpe. Das Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004? „Die Nägel waren sehr lang und sehr spitz. Die Straße wurde ausgewählt, weil dort durchweg Geschäfte für die türkische Gemeinde waren.“ Theodoros Boulgarides, ein Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, ermordet am 15. Juni 2005 in München? „Gerade nichts“, sagt Zschäpe.
Halit Yozgat, Inhaber eines Internetcafés, ermordet am 6. April 2006 in Kassel? „Da war was mit einem Verfassungsschützer“, sagt Zschäpe. Andreas Temme, ein damaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, war zur Tatzeit in dem Internetcafé anwesend. Bis heute ist nicht geklärt, warum.
„Ich fühle mich, als säße ich auf der Anklagebank“, platzt es plötzlich aus Zschäpe heraus. „Ich habe nicht erwartet, dass es jetzt hier um den Urschleim geht.“ Fast sechs Stunden lang wird sie am Mittwoch befragt. Die politische Einstellung der Angeklagten relativiert sie. „Ich weiß, dass früher etwas war und sie sich in der rechten Szene bewegt hat in Zwickau“, sagt sie. „Wir hatten nicht die großen politischen Gespräche, es ging um den Alltag mit ihren Kindern.“
Und in der Wohnung der Emingers, habe sie dort keine rechtsextremen Symbole bemerkt? „Ich glaube, was Völkisches“, sagt sie. „Eine große Schwarze Sonne im Schlafzimmer aufgehängt?“, fragt die Richterin. „Kann ich mich nicht erinnern.“ Die Schwarze Sonne besteht aus drei Hakenkreuzen, ist ein Erkennungszeichen von Rechtsextremisten und geht auf die SS zurück.
André und Susann Eminger hatten sich in der Skinhead-Szene kennengelernt. Beim Plädoyer im NSU-Prozess bezeichnete André Emingers Anwalt seinen Mandanten als „Nationalsozialisten mit Haut und Haaren“, Eminger nickte damals stolz. Zu diesem Zeitpunkt hatte er auf seinem Bauch den Schriftzug „Die Jew Die“ (deutsch: „Stirb, Jude, stirb“ sowie auf der Brust ein Porträt von Horst Wessel und einen SS-Totenkopf tätowiert. Seit 2022 befindet er sich in einem Aussteigerprogramm des Landes Sachsen. Die Tattoos hat er überstechen lassen.
Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt waren im Januar 1998 abgetaucht, nachdem die Polizei Böhnhardts Wohnung und eine von Zschäpe angemietete Garage wegen des Verdachts auf den Bau von Bombenattrappen durchsucht hatte und dort Sprengstoff sowie rechtsextreme Propaganda fand.
„Was haben Sie Ihrer Freundin erzählt, warum Sie ein Leben im Untergrund führen?“, will die Richterin am Mittwoch wissen. „Dass wir wegen der Verjährung zehn Jahre abwarten müssen.“ „Und danach? Kamen keine Fragen? Warum lebst du so? Die zehn Jahre waren ja abgelaufen.“ „Klar waren ’se abgelaufen.“ „Da müssen doch Nachfragen gekommen sein.“ „Ich war recht gut darin, dass ich abwiegeln konnte, dass ich abgelenkt habe“, sagt Zschäpe. „Vielleicht hat auch jemand nicht genau nachgerechnet.“
Die Vernehmung der Zeugin Zschäpe wird am Donnerstag fortgesetzt.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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