Wer zwei Hasen jagt, fängt keinen. Dieses Sprichwort bringt das Problem auf den Punkt, vor dem Friedrich Merz (CDU) am Vorabend seines ersten offiziellen Israelbesuchs als Bundeskanzler steht. Die Reise nach Jerusalem kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Israelis wie Palästinenser das Gefühl haben, von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen worden zu sein.

Seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und dem darauffolgenden Krieg in Gaza fühlt sich Jerusalem zunehmend isoliert: durch internationale Kritik, durch Forderungen nach Sanktionen, durch den Druck vor allem europäischer Staaten. Die Entscheidung der Bundesregierung, im August 2025 zumindest zeitweise Waffenexporte nach Israel einzustellen, markierte eine deutliche Abweichung von der traditionellen „Staatsräson“.

Israel sieht sich weiter bedroht — nicht nur militärisch, sondern auch diplomatisch. „Die israelische Regierung erwartet daher von Deutschland, dass es in Europa Druck zugunsten der israelischen Politik macht“, erklärt der israelische Historiker Moshe Zimmermann. „Um das zu erreichen, spielt man die Karte der historischen Verantwortung.“

Doch das ist nur eine Seite der Erwartungen. Viele Israelis, gerade aus Sicherheitskreisen oder dem konservativen Lager, wünschen sich von Merz nicht nur Worte, sondern handfeste Unterstützung – das schließt eine stabile Rüstungspolitik, militärische Zusammenarbeit und diplomatische Rückendeckung gegenüber internationalen Sanktionen oder öffentlicher Kritik ein.

Merz reist am Samstag erst nach Jordanien, wo er sich mit dem jordanischen König Abdullah II. in der Hafenstadt Akaba trifft. Dabei soll es unter anderem um die aktuelle Lage in Nahost gehen, die trotz des offiziellen Waffenstillstands zwischen der Terrororganisation Hamas und Israels hoch angespannt ist.

Anschließend geht es weiter nach Israel, wo ein Gespräch mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geplant ist. Bei dem Treffen am Sonntag in Jerusalem dürfte es auch um die Meinungsverschiedenheiten der vergangenen Monate gehen. Merz hatte wiederholt Kritik an Israels Kriegsführung im Gaza-Streifen geübt.

Wie halten wir es mit Israel?

Beobachter verweisen darauf, dass Israel zunehmend darauf angewiesen ist, dass westliche Partner nicht nur verbal, sondern auch strategisch mitziehen — andernfalls drohe weitere politische und kulturelle Entfremdung.

Zwei aktuelle Fälle, die nicht über Leben und Tod entscheiden, wohl aber über die Gretchen-Frage „Wie halten wir es mit Israel?“, sind bei der UEFA und dem Eurovision Song Contest zu beobachten, wo eine israelische Teilnahme von einigen Ländern offen boykottiert wird. „Für die Israelis ist das sehr wichtig“, sagt Historiker Zimmermann. „Hier eine klare Haltung zu zeigen, wird mit Sicherheit ein Anliegen der israelischen Politik an Friedrich Merz sein.“

Auf der anderen Seite steht die palästinensische Perspektive — und mit ihr die vielen Forderungen nach einer Verbesserung der humanitären Lage in Gaza und ein Ende des Vorgehens israelischer Siedler im Westjordanland. Auf europäischer Ebene steht Deutschland mit seiner Haltung zunehmend alleine da; mehrere EU-Staaten äußerten ihr Unverständnis etwa über das deutsche Veto gegen die Sanktionspläne der Kommission gegen die israelische Regierung.

Auch innerhalb Deutschlands wächst der Druck auf den Kanzler, sich stärker für die Belange der Palästinenser einzusetzen. Propalästinensische Demonstranten und NGOs fordern regelmäßig einen Kurswechsel bei den Waffenlieferungen und politische Konsequenzen bei Verstößen gegen das internationale Völkerrecht. Und selbst innerhalb der schwarz-roten Koalition, inklusive seiner eigenen Partei, ist Merz‘ Linie nicht unumstritten. Teil der SPD forderten immer wieder öffentlich einen härteren Kurs gegenüber der israelischen Regierung.

Die Bundesregierung wisse um die besondere Verantwortung Deutschlands für Israel, was allerdings nicht bedeute, „dass man nicht auch Dinge kritisch sehen kann“, sagte Vizeregierungssprecher Sebastian Hille am Freitag in Berlin. „Aber das deutsch-israelische Verhältnis ist intakt, es ist eng, es ist vertrauensvoll und findet auch Ausdruck in dem Antrittsbesuch, den der Bundeskanzler jetzt in Israel macht“, fügte Hille hinzu.

Auf den Straßen von Bethlehem, Ramallah und Jericho wird nicht erwartet, dass der Kanzler den Staatsbesuch für kritische Worte an Netanjahu nutzt. „Merz hat doch für jeden erkennbar eine klare Linie. Jegliche Konzessionen an die Palästinenser sind reine Symbolpolitik. Wir haben hier an ihn keinerlei Erwartungen“, sagt Hadeel Kamal vom Partnerschaftsverein Bonn-Ramallah.

Ein Balanceakt für Merz

Das ist der Balanceakt für Merz: zwischen den israelischen Erwartungen an Berlin und dem Grundsatz der Staatsräson sowie den innen- wie außenpolitischen Stimmen zu navigieren, die eine kritischere deutsche Position in Sachen Israel fordern. Jede zu starke Solidarisierung und jede symbolische Geste gegenüber Jerusalem wird ein lautes Echo unter den propalästinensischen Kräften in Deutschland zur Folge haben, die stark an Sichtbarkeit gewonnen haben.

„Die Bewegung hat sich verfestigt“, stellt Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, fest. „Die sogenannte Befreiung Palästinas ist von manchen zur quasireligiösen Heilserwartung für die Welt stilisiert worden.“ Nicht selten werden dabei die Grenzen zu antisemitischen Aussagen und Symboliken überschritten. Erst vor wenigen Tagen sprühten Aktivisten der Gruppe „Peacefully against genocide“ das Wort „Täter“ an eine Wand des Bundeskanzleramtes in Berlin.

Dieses Spannungsfeld wird zusätzlich dadurch verschärft, dass die jüdische Stimme in Deutschland, wie Beobachter bemängeln, im politischen Diskurs zunehmend marginalisiert erscheint. So sagte Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, kürzlich: „Wir Juden sind weitaus mehr als Kämpfer gegen Antisemitismus, weitaus mehr als nur Opfer. Doch in diesem Kampf gegen Antisemitismus sind wir häufig, zu häufig, allein.“

Von dieser Seite wird kritisiert, dass jüdische Perspektiven zu komplexen politischen Fragen immer weniger Gehör finden. Eine aktuelle Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes belegt, dass sich Juden in Deutschland alleingelassen und ausgeschlossen fühlen und sich zunehmend aus dem öffentlichen Leben – und damit auch aus öffentlichen Debatten – zurückziehen würden.

Auf dieser Reise gibt es für Merz daher kaum etwas zu gewinnen. Das Spannungsfeld zwischen israelischer Erwartung und deutschem sowie europäischem Druck propalästinensischer Stimmen lässt kaum Spielraum für diplomatische Triumphe. Sein Erfolg wird davon abhängen, ob er Schaden minimieren kann, nicht ob er Siege einfährt. Das macht die Reise schon vorab zu einer Art Nullsummenspiel.

Constantin Schreiber ist Teil des Axel Springer Global Reporters Netzwerk, zu dem neben WELT auch „Bild“, „Business Insider“, „Onet“ und „Politico“ gehören.

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