Vielen Männern in Russland kommt der Krieg inzwischen wie ein unausweichliches Jobangebot vor. Auf der Messenger-App Telegram erscheinen Offerten für Fronteinsätze neben Alltagsnachrichten – mit Unterzeichnungsprämien von bis zu 42.900 Euro; ein Vermögen in einem Land, in dem der Durchschnittslohn deutlich unter 1000 Euro im Monat liegt. Die Anreize gehen noch weiter: Schuldenerlass, kostenlose Kinderbetreuung für Soldatenfamilien, garantierte Studienplätze für ihre Kinder. Vorstrafen, Krankheiten und selbst HIV gelten nicht mehr zwangsläufig als Ausschlussgründe.
Hinter der Flut an Jobangeboten steht ein koordiniertes System in mehr als 80 russischen Regionen. Vom Kreml unter Druck gesetzt, Soldaten zu liefern, gleichen die Regionen inzwischen Rekrutierungszentren, alle konkurrieren um die Männer im wehrfähigen Alter. Was als Notlösung begann, hat sich zu einer quasikommerziellen Headhunter-Industrie ausgeweitet: finanziert durch Prämien der Russischen Föderation und regionale Haushalte. Die Regionen beauftragen Personalagenturen, diese wiederum unabhängige Vermittler, die online werben, Interessierte prüfen und sie durch den militärischen Bürokratiedschungel lotsen.
Inzwischen kann jeder russische Staatsbürger als Kriegsvermittler arbeiten – viele tun es als freiberufliche Headhunter, die Provisionen kassieren, wenn sie Männer an die Front bringen. WELT AM SONNTAG hat entsprechende Rekrutierungskanäle in ganz Russland über Monate ausgewertet und sprach mit zahlreichen Vermittlern und Rekruten.
Trotz immenser Verluste wächst Russlands Armee weiter – zum Erstaunen von westlichen Geheimdiensten und Diplomaten. Sie betrachten diese Entwicklung jedoch als zentral: sowohl für mögliche Friedensverhandlungen als auch für die Gefahr einer weiteren russischen Expansion.
„Wenn Putin die enormen Prämien (und Todeszahlungen) weiter finanzieren und die nötigen Männer finden kann“, sagt der ehemalige CIA-Direktor David Petraeus WELT AM SONNTAG, könne Russland „die kostspielige, zermürbende Kriegsführung fortsetzen, die den Ukraine-Krieg seit den letzten größeren Erfolgen beider Seiten im zweiten Kriegsjahr prägt“.
Russlands Fähigkeit, trotz massiver Verluste seine Truppenstärke stabil zu halten, ist ein Grund für Putins derzeit demonstrierte hohe Entschlossenheit. Vier Jahre nach Beginn der Invasion meint er der Ukraine seine Bedingungen aufzwingen zu können, diplomatisch oder durch ein angedrohten langjährigen Abnutzungskrieg. Gegenüber russischen Journalisten betonte er Ende November, der Krieg werde erst enden, wenn sich ukrainische Truppen aus den von Russland beanspruchten Gebieten zurückziehen. Andernfalls, so warnte er, werde Moskau seine Bedingungen „mit Waffengewalt“ durchsetzen.
Marktplatz der Soldaten
Als Russland Anfang 2022 die Ukraine überfiel, betrieben Olga und ihr Mann Alexander in Moskau eine kleine Vermittlungsfirma für Bauarbeiter, Wachleute und Kuriere. Vor 18 Monaten sattelten sie um – auf Soldaten. „Unsere Tochter sah auf Avito eine Anzeige für Recruiter – so fing alles an“, erzählt Olga per Sprachnachricht auf WhatsApp. Ihr Profilbild zeigt den russischen Doppeladler.
Als der vermeintliche Blitzkrieg zum Abnutzungskrieg wurde, änderte der Kreml auch die Mobilisierung. Im September 2022 kündigte Putin eine „Teilmobilmachung“ von 300.000 Reservisten an. Ein Schritt, der eine Welle der Empörung und eine massive Auswanderung auslöste. Gleichzeitig öffnete der Staat die Gefängnistore: Häftlinge wurden mit Begnadigungen und Sold an die Front gelockt.
Der Ansatz funktionierte – und schuf ein neues Modell: weniger Zwang, mehr Geld. Um Freiwillige zu gewinnen, nahm der Kreml gezielt die Schwächsten der Gesellschaft ins Visier. Die Mittel: steigende Löhne, hohe Prämien und das Versprechen eines sozialen Aufstiegs. Im September 2024 machte Putin diese Strategie öffentlich und ordnete den Ausbau der Streitkräfte auf 1,5 Millionen aktive Soldaten an.
„Diese Maßnahmen richten sich an eine ganz bestimmte Gruppe: sozial benachteiligte Menschen“, sagt Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann. „Männer mit Schulden, Vorstrafen, geringer Bildung – Menschen am Rand der Gesellschaft, ohne Perspektive.“
Mehrere Monate arbeiteten Alexander und Olga für ein Unternehmen, das sie über Avito gefunden hatten, bevor sie sich selbstständig machten. „Jetzt arbeiten zehn Recruiter für uns“, sagt Olga. „Wir helfen Soldaten bei den Papieren und stellen den Kontakt zu den Regionalbehörden her. Und dann beten wir, dass sie lebend und gesund zurückkommen.“
Wie viel sie pro Rekrut verdient, verrät sie nicht. Ein anderer Recruiter bestätigte jedoch WELT AM SONNTAG die Zahlen, die das unabhängige russische Medium Verstka veröffentlichte: Demnach liegen die Provisionen zwischen knapp 1000 und 3000 Euro pro unterschriebenem Vertrag. Viele Regionen greifen auf Rücklagen zurück, um das Rekrutierungsniveau zu halten. Laut Recherchen des Mediums iStories hatten allein elf Regionen mindestens 21,45 Millionen Euro für Vermittlungsprämien eingeplant – vergleichbar mit Ausgaben für Gesundheit oder Soziales.
Eine Analyse des deutschen Ökonomen Janis Kluge, basierend auf Daten aus 37 Regionen, zeigt: Die durchschnittliche Unterzeichnungsprämie für Soldaten liegt bei rund 22.180 Euro inklusive Zuschüssen aus Moskau. In Samara stieg die Prämie zeitweise auf mehr als 42.900 Euro – genug für eine Zweizimmerwohnung in der russischen Region. „Solche Summen können das Leben einer russischen Familie komplett verändern“, sagt Kluge. „Das System funktioniert überraschend gut – aber es wird für den Kreml immer teurer.“
In einigen Regionen gingen die Prämien zuletzt zurück. Laut Kluge ein Zeichen dafür, dass sie ihre Quoten bereits erfüllt hätten – und ihre Haushalte entlasten wollen.
Putins Personal-Strategie
Die Rekrutierungsmaschinerie sorgt dafür, dass monatlich 30.000 Freiwillige in die Streitkräfte eintreten – genug, um die Verluste in der Ukraine auszugleichen. Das Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington schätzte kürzlich im Einklang mit Angaben britischer und ukrainischer Behörden, dass Russland rund eine Million Tote und Verwundete zu beklagen hat.
Moskau setzt aber nicht allein auf Freiwillige. Ein jüngst unterzeichnetes Gesetz stellt die Wehrpflicht – bislang halbjährlich organisiert – auf einen ganzjährigen Betrieb um. Experten sprechen von einer „permanenten Rekrutierungsinfrastruktur“.
„Sie gehen voran und kümmern sich nicht darum, wie viele Menschen sie verlieren“, sagte Andrij Jermak, langjähriger Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, im Gespräch mit dieser Redaktion, kurz bevor er Ende November zurücktrat. „Wir sind eine Demokratie – Russland ist eine Autokratie. Dort zählt ein Menschenleben nichts.“
Der Mangel an Frontsoldaten ist seit vielen Monaten ein existenzielles Problem der ukrainischen Armee; vielerorts können Truppen ihre Stellungen kaum halten. Ukrainische Offiziere berichten, dass an Teilen der Ostfront auf einen ukrainischen Soldaten bis zu sieben Russen kommen. Hinzu kommt: Zehntausende Ukrainer haben im vergangenen Jahr desertiert.
Die personelle Übermacht ermöglicht Russland, jeden Monat ukrainisches Gelände in der Größenordnung der Stadt München zu erobern. Kiew versucht gegenzusteuern und zunehmend im Ausland zu rekrutieren – tausende Südamerikaner, aber auch Europäer, darunter Deutsche, kämpfen bereits für die Ukraine.
Nach Einschätzung deutscher Sicherheitskreise dürfte Putin 2026 tatsächlich einen Aufwuchs seiner Armee auf 1,5 Millionen Soldaten erreichen. „Russland mobilisiert in einem Ausmaß, das auf eine größere militärische Konfrontation mit weiteren europäischen Staaten hindeutet“, sagt CDU-Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter.
Soldat aus Not
Anton trat im Jahr 2024 nicht aus Überzeugung in die russische Armee ein. Er tat es, weil er finanziell in Not war. Sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert. Der 44-jährige Vater von drei Kindern aus der Region Moskau war arbeitslos, hoch verschuldet, und wegen Betrugs angeklagt – er hatte darum kaum Chancen auf legale Arbeit. Auf Telegram sah er immer wieder Anzeigen für den Kriegsdienst mit hohen Prämien.
„Meine Frau war in Elternzeit, meine Mutter Rentnerin – alle waren von mir abhängig“, sagt Anton. „Bei einem Streit sagte meine Frau: ‚Es wäre besser, du würdest in den Krieg gehen‘.“ Anderthalb Monate später unterschrieb er. Ein Vermittler war nicht beteiligt. Der Vertrag versprach ihm dennoch rund 2270 Euro im Monat, dazu eine Prämie von 2110 Euro – mehr als das Zehnfache seines vorherigen illegalen Einkommens. Anton wurde ins ukrainische Gebiet Donezk versetzt, wo er Drohnen wartet.
Viele seiner Kameraden seien ebenfalls aus finanzieller Not gekommen, sagt Anton. „Hier gibt es keine patriotischen Parolen – alle sind müde. Alle wollen nach Hause.“
Für viele Russen ist der Fronteinsatz zur Lotterie auf ein besseres Leben geworden: Selbst Verletzungen werden laut einem Präsidialdekret vergütet – 10.290 Euro für einen gebrochenen Finger, 30.890 für einen zertrümmerten Fuß. Bei kurzen Fahrten näher an die Front sei Anton mehrfach von ukrainischen Drohnen angegriffen worden, erzählt er. Eine explodierte in seiner Nähe. Trotzdem sagt er: „Meine finanzielle Lage hat sich verbessert. Es klingt traurig, aber für mich persönlich war der Vertrag ein Gewinn.“ Das Schwerste sei die Trennung von den Kindern. „Aber selbst wissend, was ich jetzt weiß: Ich würde es wieder tun.“
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