Vordergründig ist die Bilanz der diesjährigen deutsch-polnischen Regierungskonsultationen durchaus ansehnlich. Polen ist vor Italien und Großbritannien der viertgrößte Handelspartner Deutschlands. Der stärkste Pfeiler der Zusammenarbeit ist derzeit die Furcht vor einer möglichen russischen Aggression. Dass diese Bedrohung real ist, davon musste Polens Ministerpräsident Donald Tusk diesmal niemanden in Berlin überzeugen.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte schon im Wahlkampf das verteidigungspolitische Gewicht Polens in Europa hervorgehoben, das für Deutschland ebenso relevant sei wie die Zusammenarbeit mit Frankreich, dem wichtigsten Alliierten.
Im Detail ist die Realität jedoch nicht so rosig. Der Unterschied im Rüstungspotenzial beider Länder ist so groß, dass nur wenige polnische Firmen ein Risiko eingehen können. Ein Prüfstein für die Zusammenarbeit sollte die Übernahme deutscher U-Boote sein. Doch das Angebot der Schweden war günstiger. Es wird also beim Ausbau der militärisch wichtigen Infrastruktur bleiben, angefangen mit dem Ausbau der Oderbrücken, Straßen und Eisenbahnlinien.
Das deutsch-polnische Stimmungsbarometer zeigt allerdings, dass die Gegenwart und Zukunft nach wie vor von der Vergangenheit überschattet wird. 70 Prozent der Deutschen, aber nur 48 Prozent der Polen möchten sich vor allem auf aktuelle und künftige Probleme konzentrieren. 34 Prozent der Polen sehen in historischen Fragen gar das Haupthindernis für eine gemeinsame Beschäftigung mit Zukunftsproblemen.
Seit Jahren sinkt auch die Zustimmung der Polen zur deutschen Europapolitik. Bewerteten sie 2005 noch 63 Prozent der Polen positiv, sind es heute nur noch 35 Prozent. 32 Prozent sind der Ansicht, Deutschland habe zur Eskalation von Konflikten in Europa beigetragen. Der Sympathiepegel für Deutsche ist auf den niedrigsten Stand in diesem Jahrhundert gesunken: Nur 25 Prozent der Polen möchten Deutsche als Nachbarn, Familienmitglieder oder Mitarbeiter haben.
Für diesen Sympathieschwund macht Agnieszka Łada-Konefał vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt alle politischen Lager in beiden Ländern verantwortlich. Es liege nicht nur an der negativen Rhetorik der polnischen Rechten, sondern auch am Fehlen konkreter Regierungsinitiativen zur Kooperation mit Deutschland. Umgekehrt hätten die mangelhaften deutschen Wiedergutmachungsinitiativen und das wenig partnerschaftliche Zugehen der Deutschen auf die Polen zu berechtigter Enttäuschung in Polen geführt.
Gegenwart und Zukunft drängen beide Länder also zur Zusammenarbeit, aber die Vergangenheit vergeht nicht. Und zwar nicht nur die der deutschen Besatzungspolitik 1939 bis 1945, sondern auch der 80 Nachkriegsjahre.
Vergangenheit rückt ins Zentrum des Diskurses
Nach 1945 las man in Polen selbst in katholischen Blättern vom Recht auf Hass und Rache – im geteilten Deutschland dagegen vom Unrecht der Vertreibungen und der Oder-Neiße-Linie. Deren Anerkennung durch die DDR 1950 hat mitnichten die eingefleischten antipolnischen Ressentiments beseitigt.
Der kommunistischen Führung der Volksrepublik Polen wiederum kam die DDR zwar als Bollwerk gegen den „westdeutschen Revisionismus“ zupass – aber nur auf Abruf, da ihre Existenz von Moskaus sprunghafter Deutschlandpolitik abhing. 1953, nach dem Volksaufstand in der DDR, drängte Walter Ulbricht in Moskau zur wirtschaftlichen Rettung der DDR auf Aufhebung der Reparationen. Moskau entschied, und Warschau musste folgen. Das ist der Hintergrund des heutigen Gerangels um die abgebrochenen Kriegsreparationen an Polen. Juristisch-politisch mag die Lage eindeutig sein – aber moralisch-historisch nicht.
Die Jahrzehnte der Normalisierung der Beziehungen mit der Bundesrepublik leiteten wohl 1965 die polnischen Bischöfe ein. Sie formulierten für ihre deutschen Amtsbrüder den bahnbrechenden Satz, „wir vergeben und bitten um Vergebung“. Das verlieh dem Dialog eine moralische Note der christlichen Versöhnung. Eine stumme Antwort darauf war fünf Jahre später der Kniefall des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD) im ehemaligen Warschauer Ghetto. Das gab den Kontakten der Siebziger- und Achtziger-Jahre Aufwind, dem „Heimattourismus“, den ersten Städtepartnerschaften, Schulbuchkonferenzen, Staats- und zunehmend auch Privatbesuchen sowie der enormen Solidarität mit Polen während des 1981 gegen die Solidarność verhängten Kriegsrechts.
Nach 1985 – im Fahrwasser der Perestrojka – konnte jene „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“ verwirklicht werden, die in den siebziger Jahren unter polnischen Oppositionellen vorgedacht und dann von den Solidarność-Beratern ausgearbeitet wurde. Polen unterstützte die deutsche Vereinigung, Deutschland wiederum die Anbindung Polens an den Westen. Auf den endgültigen Grenzvertrag 1990 und den Freundschaftsvertrag 1991 folgten 1997 der Nato- und 2004 der EU-Beitritt Polens. Das Jahr 2005 markierte eine „Renationalisierung“ der deutsch-polnischen Nachbarschaft, die bis heute dauert. Sie begann bereits früher mit heftigen vergangenheitspolitischen Debatten in beiden Ländern.
Nun aber bekam sie in Polen eine klare Note durch den Sieg der rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ der Brüder Kaczyński, die ihren Wahlkampf mit klaren antideutschen Akzenten führte und ihren Gegenspieler – Donald Tusk – als Deutschen stigmatisierte. Für die Nationalen ist er seit Jahren „Herr Tusk“, „Merkels Zögling“ oder der „rothaarige Deutsche“. 2020 wurde er erneut von der PiS angerempelt, gewann aber 2023 knapp mit einer abenteuerlichen Koalition die Parlamentswahl.
Mit dem Sieg Karol Nawrockis bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen ist er allerdings in einer Zwickmühle. Nawrocki baut eine eigene Hausmacht auf – dabei liebäugelt er mit der Konfederacja, einer polnischen Entsprechung der AfD, und distanziert sich von dem sichtlich alternden Jarosław Kaczyński. Tusk wiederum versucht vor den Parlamentswahlen 2027, den Rechten Wind aus den Segeln zu nehmen.
Die Vergangenheit wird ins Zentrum des Diskurses gerückt, doch zugleich muss sich die deutsch-polnische Nachbarschaft einer neuen Phase stellen, die vom russischen Krieg gegen die Ukraine und den brüchigen Frieden in Europa gekennzeichnet ist.
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