Es riecht nach altem Holz und Kerzen, als die Besucher an diesem Abend in der Friedenskirche Charlottenburg zusammenkommen. Vor ihnen stehen ein niedriger Tisch mit Geschenken und ein Adventskranz, soweit vertraut aus der Vor-Weihnachtszeit. Jedoch: „Heute geht es darum, die Weihnachtsgeschichte anders zu betrachten“, sagt Bastian Schmidt, 27, Theologie-Student und Küster der baptistischen Gemeinde.

Er wird hier gleich eine Führung unter dem Titel „Decolonizing Christmas“ beginnen, heißt: „Weihnachten dekolonisieren“.

Der Rundgang ist angekündigt als interreligiöse und rassismuskritische Betrachtung des Weihnachtsgartens der Friedenskirche. Die Veranstalter vom Verein „Freunde und Freundinnen des Berliner Forums der Religionen e.V.“ wollen gemeinsam mit muslimischen und christlichen Stimmen „koloniale und diskriminierende Bilder“ in der Weihnachtsgeschichte sichtbar machen. Besucher sollten erfahren, wie religiöse Vorstellungen „durch koloniales Denken geprägt“ seien und wie Weihnachten „als Fest für alle“ neu gedacht werden könne. Der Anspruch laut Einladung: nicht nur Bräuche erklären, sondern „neue politische Wirklichkeiten“ aufzeigen und die Weihnachtsgeschichte „gesellschaftlich nutzbar“ machen.

Die Führung, erklärt der Theologie-Student Schmidt, sei aus der Frage eines Schülers entstanden, was die Weihnachtsgeschichte uns heute noch sagen könne und aus dem Bedürfnis heraus, etwas gegen „antimuslimischen Rassismus“ zu tun. An Schmidts Seite steht Gökce Aydin vom Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität, so stehen sie für die angestrebte je christliche und muslimische Perspektive.

Der Rundgang beginnt: Rund zehn Besucher – überwiegend ältere Männer – folgen einander in eine Abfolge kleiner Räume. Im ersten davon sitzen die Besucher im Stuhlkreis. Schmidt spricht über Dinge, die man im Dezember für selbstverständlich hält. „Man hat versucht, durch diese Bräuche seine Traditionen am Leben zu halten“, sagt er und erklärt die Herkunft des Adventskranzes und weihnachtlicher Süßigkeiten. Dann erzählt er vom heiligen Nikolaus – von Legenden, Ausschmückungen und der Rolle von Coca-Cola beim bekannten roten Gewand. Den historischen Nikolaus nennt er „einen lieben, fast schon sozialistischen alten Mann“.

Aydin ergänzt Ausführungen über die Bedeutung des Lichts im Sufismus, Kerzen an Festtagen, Tannenbäume an Neujahr. „Einige Familien haben einen Ramadan-Kalender statt eines Adventskalenders“, sagt sie. Die Besucher hören aufmerksam zu.

Heilige Drei Könige, im Original: „Betrüger“

Der Übergang in den nächsten Raum ist eine Schranktür, eine Anspielung auf die Buch- und Film-Reihe „Die Chroniken von Narnia“ des christlichen Autors C.S. Lewis. Dahinter stehen die Heiligen Drei Könige. „Im griechischen Urtext heißen sie magoi“, sagt Schmidt. „Das kann man auch mit Betrüger übersetzen.“ In der Bibel-Überlieferung des Matthäus beschreibe dieser die Fremden mit Faszination und Argwohn. „Er musste sich dieses unheimliche Wissen der Drei irgendwie erklären.“ Später bezeichnet Schmidt diese Grundhaltung des Evangelium-Autors als „rassistische Xenophobie“.

Ein Raunen geht durch die Gruppe. Besonders die Darstellung Königs Caspars – in der europäischen Krippentradition oft bewusst als Schwarzer – hält Schmidt für problematisch. Das sei weniger Ausdruck globaler Vielfalt als vielmehr ein kolonial geprägtes Bild von „dem Anderen“.

Der nächste Raum ist größer, rot erleuchtet. Auf Sitzkissen nimmt die Gruppe vor einer schlichten Darstellung des Zimmers von Maria Platz. Aydin erklärt, wie Maria im Koran als Maryam erscheint: eine junge, eigenständige Frau, die die Schmerzen der Geburt erlebt. „Wahrscheinlich war sie vierzehn, als sie Jesus zur Welt brachte“, sagt Schmidt.

Schmidt verschiebt die Perspektive weiter: Der entscheidende Vers aus Jesaja sei falsch übersetzt worden. „Eigentlich steht dort ‚arbeitende Frau‘, nicht zwingend ‚Jungfrau‘.“ Er betont, niemandes Glauben angreifen zu wollen: „Ich will das Wunder der Geburt Jesu betonen. Aber man sollte wissen, worüber man spricht.“ Ein älterer Besucher meldet Zweifel an: Niemand sei damals dabei gewesen.

Hinter dem nächsten Durchgang steht eine einfache Holzkonstruktion, die eine Herbergsfassade andeutet. Gegenüber hängt eine Landkarte der antiken Region rund um das heutige Israel. Schmidt zeichnet den Weg von Nazareth nach Betlehem nach – eine Strecke, die in der christlichen Tradition als Pilgerroute erzählt wird.

Historisch sei das jedoch keineswegs gesichert. „Ob die zugrundeliegende römische Volkszählung überhaupt so stattgefunden hat, wissen wir nicht“, sagt er. Viele vertraute Elemente der Weihnachtsgeschichte ließen sich schwer belegen, und dennoch würden sie oft als unverrückbar dargestellt. „Wir reden viel über muslimischen Fundamentalismus“, sagt Schmidt. „Aber christlicher Fundamentalismus ist auch ein Problem in unserer heutigen Gesellschaft.“

Der vorletzte Raum ist weitläufig, der Boden mit Stroh ausgelegt, Plastikschafe stehen im Halbschatten. Schmidt deutet auf die Hirten: gesellschaftliche Randfiguren, arm, nicht angesehen. „Über sie redete man damals wie die CDU heute über Neukölln“, sagt er. Daraufhin herrscht kurz, vielleicht verblüffte, Stille.

Aydin ergänzt, dass es bemerkenswert sei, dass gerade die einfachen Leute das Wunder zuerst zu Gesicht bekommen. Nicht Könige, keine Eliten – Menschen, die religiös wie sozial ganz unten stehen. „Das ist kein Zufall“, sagt sie. Ihre Botschaft: die christliche und islamische Religion ist kritisch gegenüber Eliten und deren Machtausübung.

Im letzten Raum steht eine große Krippe aus Holz. Maria und Josef sind mit dunklerer Haut dargestellt, das Kind liegt auf Stroh, die Tiere daneben. „Armut wird in der christlichen Tradition oft romantisiert“, sagt Schmidt. „Damals war sie Alltag.“ Im Islam, ergänzt Aydin, sei jede Geburt ein Wunder – ohne den moralischen Akzent der Armut. Schmidt führt den Gedanken weiter: Die Weihnachtsgeschichte sei auch eine Erzählung über Migration. „Bin ich der Wirt, der einen Stall anbietet? Oder der sagt: Bei mir gibt es keinen Platz?“

„Decolonizing heißt Entscheidungen treffen“

Nach der Führung erläutert Schmidt im Gespräch, dass für ihn die Weihnachtsgeschichte kein sakraler Ruheraum sei, sondern ein Text, der „Unterdrückungsstrukturen und koloniale Blickwinkel sichtbar machen“ könne. Er zitiert Befreiungstheologen wie Gustavo Gutiérrez, spricht über die Verantwortung, religiöse Schriften historisch zu prüfen, und über den Mut, tradierte Bilder zu korrigieren.

„Decolonizing heißt Entscheidungen treffen“, sagt er. „Traditionen muss man nicht abschaffen, aber man sollte verstehen, wie sie entstanden sind.“ Die Weihnachtsgeschichte verstehe er ausdrücklich auch politisch, sagt Schmidt zudem, und dass er sich gegen christliche Milieus wende, die sich selbst als „apolitisch“ sehen. Diese Haltung, so Schmidt, öffne „Tür und Tor für Kulturkampf-Konservativismus“ und könne in „rechte Strukturen“ führen. Kritik am Islam spart er an diesem Abend bewusst aus, um nicht erneut dem Muster zu folgen, „über ‚die Anderen‘ zu reden“.

Ermöglicht wurde die Veranstaltung durch Mittel der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Projektförderung zur Stärkung der religionsübergreifenden Zusammenarbeit wird regulär öffentlich ausgeschrieben; der Träger der Führung, der Verein „Freunde und Freundinnen des Berliner Forums der Religionen e. V.“, hatte sich im üblichen Verfahren beworben. Die Veranstaltung gehört zu dessen Projekttitel „Interreligiöse Bildungsarbeit“ und erfüllt laut Senatsverwaltung die Förderkriterien des Programms.

Der Verein erhielt im Jahr 2025 insgesamt 80.000 Euro, davon 65.000 Euro für Personalkosten. Er arbeitet vor allem in der Fortbildung von Religionslehrern und in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen, unter anderem im Projekt „Interkultur Pankow“, das Willkommensklassen mit Berliner Schulklassen in Kontakt bringt. Die Führung „Decolonize Christmas“ wurde nach Angaben der Senatsverwaltung mit „sehr schmalen Restmitteln“ aus diesem Budget umgesetzt.

Die Besucher reagieren unterschiedlich. Holger Rogoll (57) lobt die historische Tiefenschärfe: „Manches war mir so nie bewusst.“ Michael Hackenberger (71) betont die Grenze zwischen Faktentreue und Bedeutung: „Was wirklich passiert ist, weiß keiner. Entscheidend ist, wie man die Geschichte liest.“ Und Ralf Mitmann (61) nimmt vor allem die interreligiösen Bezüge mit: „Jetzt verstehe ich besser, warum Jesus in der Kunst immer europäisch aussieht – und warum ihn das irritiert.“

Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.