In Europa wächst der Druck, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) neu auszulegen, um den Staaten mehr Handlungsspielraum in Migrationsfragen zu verschaffen. Mehrere Mitgliedstaaten des Europarats treffen sich am Mittwoch in Straßburg, um „über Migration und die Europäische Menschenrechtskonvention“ zu sprechen. Eingeladen hat der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset. Er hatte sich zuvor offen für Reformen gezeigt.
„Migrationsfragen sind eines der wichtigsten aktuellen Themen in den Ländern und für die Menschen in Europa“, sagte Berset vor der Veranstaltung. „Die Europäische Menschenrechtskonvention bietet den Rahmen, den wir brauchen, um diese Fragen effizient und verantwortungsbewusst zu behandeln.“ Ziel sei es, die Konvention „stark und relevant zu erhalten, um das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit, Recht und Verantwortung zu gewährleisten“.
Druck kommt von mehreren Mitgliedstaaten. Neun von ihnen hatten im Mai öffentlich die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention kritisiert. Sie finden, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der über die Konvention wacht, den Handlungsspielraum der Staaten zu sehr eingeschränkt habe.
Man müsse darüber sprechen, ob das Gericht in einigen Fällen den Anwendungsbereich der Konvention „zu weit“ ausgedehnt und damit das Gleichgewicht zwischen den zu schützenden Interessen verschoben habe, hieß es in einem Brief der neun Staaten, zu denen unter anderem Italien und Dänemark gehören. Man habe etwa Fälle gesehen, bei denen das Gericht Möglichkeiten der Staaten, zu entscheiden, wen sie aus ihrem Hoheitsgebiet abschieben, zu stark eingeschränkt habe.
Tatsächlich setzt die Menschenrechtskonvention, der sich 47 europäische Staaten verpflichtet fühlen, der Politik Grenzen. So gilt das Zurückweisungsverbot absolut. Niemand darf in Situationen zurückgeschickt werden, in denen unmenschliche oder erniedrige Behandlung droht, auch Kriminelle nicht. Dazu können nach der Rechtsprechung des Gerichts auch widrige Lebens- und Unterbringungsbedingungen in einem EU-Mitgliedstaat zählen.
Großbritannien diskutiert über Austritt aus Menschenrechtskonvention
Mehrere Staaten halten das nicht mehr für zeitgemäß, in Großbritannien wird sogar offen über einen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention diskutiert. Das Treffen der Justizminister in Straßburg kann man auch als Versuch sehen, diese seit Monaten laufenden Debatten zu ordnen. Dabei werden einige Staaten auch fordern, den Gerichtshof nicht grundsätzlich infrage zu stellen.
„Wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, wenn wir ein Kontinent der Freiheit und der Grundrechte bleiben wollen, dann müssen wir gerade auch die Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte achten“, sagte Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) WELT und POLITICO. Hubig nimmt für Deutschland an dem Treffen teil. „Denn eine unabhängige Justiz ist ein elementarer Bestandteil eines wirksamen Menschenrechtsschutzes“, so Hubig. Grundrechte garantierten nur dann Freiheit und Gleichheit, „wenn am Ende nicht Regierungen darüber entscheiden, was sie bedeuten, sondern unabhängige Richterinnen und Richter“.
In diesem Sinne erhoffe sie sich von dem Treffen in Straßburg ein klares Signal: „Die Justizministerinnen und Justizminister des Europarats stehen hinter dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie bekräftigen: Richterinnen und Richter müssen frei von politischer Einflussnahme entscheiden können - auch und gerade die Richterinnen und Richter des EGMR. Die Unabhängigkeit des Gerichtshofs ist nicht verhandelbar.“
Einen anderen Ton setzten die Premierminister von Großbritannien und Dänemark, Keir Starmer und Mette Frederiksen. Bei dem Treffen in Straßburg gehe es darum, eine „Modernisierung der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention voranzutreiben“, schreiben sie in einem gemeinsamen Gastbeitrag für den Guardian. Das Konventionssystem müsse sich weiterentwickeln, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
In Straßburg werden zunächst keine Beschlüsse geben. Fürs Erste soll es wohl gehen, die unterschiedlichen Perspektiven zu erörtern.
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