Konzerte, Paraden, Gebete und Großkundgebungen mit Feuerwerk – am Montag wird in Syrien mit viel Aufwand der erste „Tag der Befreiung“ gefeiert. Vor genau einem Jahr, am 8. Dezember 2024, hatten syrische Rebellengruppen unter Führung der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) Miliz eine Überraschungsoffensive gestartet. Innerhalb von nur zwölf Tagen erreichten sie die Hauptstadt Damaskus und brachten das Assad-Regime zu Fall, das über fünf Jahrzehnte lang mit Repression, Folter und Mord geherrscht hatte.

Eine historische Zäsur, die Hunderttausende Menschen auf den Straßen bejubeln werden. Aber längst nicht allen Syrern ist zum Feiern zumute. Vor allem die Angehörigen der zahlreichen ethnisch-religiösen Minderheiten leben seit einem Jahr in Furcht – und das ausgerechnet vor ihren „Befreiern“. Es sind deren überwiegend radikal-islamistische Milizen, die Angst und Schrecken verbreiten, obwohl sie als Teil der neuen syrischen Armee eigentlich ein Stabilitätsfaktor sein sollten.

So hatten Einheiten der nationalen Sicherheitskräfte im März ein Massaker an Alawiten mit mindestens 1500 Todesopfern an der Mittelmeerküste verübt. Im Juni und Juli folgten Angriffe auf die überwiegend von Drusen bewohnte Provinz Suweida. Bis zu 2000 Menschen wurden buchstäblich abgeschlachtet, darunter auch eine christliche Großfamilie. Seitdem reißen die Berichte über sektiererische Zwischenfälle nicht ab.

„Uns erreichen erschütternde Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen, willkürliche Tötungen und Entführungen“, hielt das UN-Büro für Menschenrechte am Wochenende fest. Alawitische Frauen verschwinden spurlos. Kurdische Männer werden festgenommen, gefoltert und ihre Leichen später irgendwo am Straßenrand abgeladen. Auch Christen berichten von immer neuen Übergriffen. Erst vergangene Woche drangen Extremisten auf das Gelände einer armenischen Kirche in Homs ein, zertrümmerten laut der Verwaltung Türen und zerrissen Bibeln.

„Täglich passiert etwas – und die Regierung unternimmt nichts“, sagt Hareb Barsoum, ein christlicher Politiker. „Es sind unsichere Zeiten und man muss auf alles vorbereitet sein.“ Seiner Einschätzung nach könnte die Lage leicht eskalieren und sogar zu einem neuen Krieg führen. Die Rede ist von einer möglichen Konfrontation zwischen den Truppen der syrischen Regierung und den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) der autonomen Administration Nordostsyriens.

Seit August kommt es bereits zu regelmäßigen Feuergefechten, obwohl eigentlich ein Waffenstillstand vereinbart worden war. Die Kämpfe finden um die beiden kurdischen Exlaven Sheik Maksoud und Ashrafieh in Aleppo sowie entlang des Euphrat-Stroms statt. Letzterer fungiert als Demarkationslinie zwischen dem Regierungsgebiet und dem der kurdisch dominierten Selbstverwaltung, die etwa ein Drittel Syriens bis zur irakischen Grenze kontrolliert.

Die fragile Situation könnte sich jederzeit zuspitzen, zumal die Verhandlungen zwischen der Regierung und der Autonomiebehörde bisher kaum sichtbare Resultate gebracht haben. Die SDF, die gemeinsam mit den Koalitionsstreitkräften gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft haben, sollen zwar als Block in die syrische Armee integriert werden, viele weitere Punkte bleiben jedoch strittig.

Dazu zählen etwa die Aufteilung der Einnahmen aus der Ölfeldern in Nordostsyrien, das Schulcurriculum, zivile Eheschließungen – und die Frage nach dem zukünftigen politischen System Syriens. Damaskus pocht auf einen Zentralstaat, während die Selbstverwaltung Föderalismus bevorzugt. „Die Regierung will vollständige Kontrolle“, sagt Fawza Yousef, führendes Mitglied der Verhandlungsdelegation der Autonomiebehörde. „Letztendlich ist es wie mit dem Assad-Regime, das immer behauptete, Föderalismus würde Syrien spalten.“

Islamistische Hardliner setzen auf Unterwerfung

„Sie verschleppen die Verhandlungen und machen keine verbindlichen Zusagen“, berichtet Barsoum, der christliche Vertreter innerhalb der Delegation Nordostsyriens. Er gibt allerdings zu, dass das Verhandlungsteam von Interimspräsident Ahmed al-Scharaa in einem unangenehmen Dilemma steckt. Es muss auch die Extremisten in den eigenen Reihen zufriedenstellen, sonst drohen womöglich ernsthafte interne Querelen. Für die islamistischen Hardliner ist Unterwerfung allein das Rezept im Umgang mit Minderheiten und Dissidenz.

Mit Sicherheit würden die Milizen, die an der Demarkationslinie am Euphrat stationiert sind, die Region der Autonomiebehörde am liebsten erobern, anstatt zu verhandeln. Ein Großteil dieser Einheiten waren Teil der Syrischen Nationalarmee (SNA), die die Türkei trainiert und bewaffnet hatte. Die SNA ist heute zwar offiziell aufgelöst, aber ihre Einheiten bleiben weiter ein wichtiger Bestandteil der Sicherheitskräfte.

Ankara hatte die SNA-Söldnertruppe zwischen 2016 und 2019 bei drei großen militärischen Operationen in Nordsyrien gegen „kurdische Terroristenbanden“ eingesetzt, um einen „Sicherheitskorridor“ entlang der türkischen Grenze zu etablieren. Dabei war es zu schweren Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung gekommen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte 2022 einen weiteren Angriff angekündigt, jedoch wurde der nicht in die Tat umgesetzt.

Aber das könnte sich ändern, insbesondere im Hinblick auf die neuen machtpolitischen Interessen der syrischen Regierung. Der Verlauf der Demarkationslinie entlang des Euphrats wird nur einmal unterbrochen. Bei al-Mansoura, unweit der ehemaligen IS-Hauptstadt Rakka, besitzen die SDF Stellungen auf der anderen Seite des Stroms. Es ist ein rund 15 Kilometer breiter Korridor, der etwa 100 Kilometer ins Regierungsgebiet hineinreicht.

Der letzte Ort unter SDF-Kontrolle ist Deir Hafer. Die Kleinstadt und ihr vorgelagerte Dörfer sind immer wieder Angriffsziele der Regierungsmilizen. „Wir kontrollieren die Dämme und damit die Wasserversorgung für Aleppo, das nur 40 Kilometer entfernt ist“, erklärt Sehrkhaboun Kopal, der zuständige Kommandeur. „Durch die strategische Bedeutung ist der Korridor wie ein Stachel für Damaskus.“

Erst gestern habe es wieder Heckenschützenfeuer geben, aber im Grunde sei es momentan relativ ruhig, erzählt der 33-Jährige. Allerdings würde man einen Truppenaufbau auf der anderen Seite mit Panzern und anderen schweren Waffen beobachten. „Ohne Zweifel, sie bereiten sich auf einen Krieg vor“, meint der Kommandeur.

Auf dem Weg zu den Frontstellungen seiner Kämpfer durch eine ländliche Gegend mit Bauernhäusern zwischen Mais- und Kartoffelfeldern ist kein Soldat ist zu sehen. Aber jedes Gebäude sei mit Einheiten besetzt, versichert Kopal. Seine Soldaten tragen Tarnuniformen mit langen Fransen, wie sie sonst nur Heckenschützen tragen. „Sie müssen in der Langschaft verschwinden“, erklärt der Kommandeur. „Aber vieles läuft natürlich unterirdisch ab, um uns vor Drohnen zu schützen.“

„Föderales System wäre das beste für Syrien“

Deir Hafer, aber auch die Provinz Rakka wird hauptsächlich von sunnitischen Arabern bewohnt. Sie äußerten sich in der Vergangenheit häufig sehr kritisch über die kurdisch dominierte Verwaltung. Beobachter sahen dies als Risikofaktor für die Stabilität der Region, zumal sich auch das Gros der SDF-Soldaten aus der arabischen Bevölkerung rekrutierte.

Aber die schrecklichen Ereignisse nach der Machtergreifung al-Sharaas und seiner islamistischen Milizen scheinen die Haltung verändert zu haben – insbesondere die Vorgänge in Manbidsch. Syrische Regierungstruppen hatten die vom SDF kontrollierte Stadt im Dezember 2024 erobert und Geschäfte und Wohnhäuser von arabischen Familien wahllos geplündert. Es gab Dutzende von Toten, darunter auch viele Zivilisten.

„Die Einwohner wurden betrogen“, sagt Scheich Talal al-Sibat in seinem Haus in der Nähe Rakkas. Er ist der Anführer des al-Wilda-Stammes, einem der bedeutendsten der Stadt. „Ja, es hatte viel Kritik an der Verwaltung gegeben“, sagt er. „Aber die ist nun verstummt.“

Er weiß, dass ohne den Schutz der SDF auch die arabische Bevölkerung den islamistischen Horden ausgeliefert wäre. Scheich al-Sibat berichtet, dass die Stämme schon oft versucht hätten, mit Damaskus Kontakt aufzunehmen. „Aber immer vergeblich“, sagt er.

Ein anderer Stammesfürst bekam dagegen zahlreiche Anrufe aus Damaskus und wurde von Präsident al-Scharaa sogar zu einem Treffen eingeladen. Es ist Scheich Manea Hamidi al-Daham vom al-Shammar Stamm, der in Syrien und im Irak, aber auch in den Golfländern viel Einfluss hat. Der Besuch in Damaskus war mit der Selbstverwaltung abgesprochen.

Der Shammar-Scheich hofft auf ein faires Abkommen zwischen der Selbstverwaltung und der Regierung. „Ein föderales System wäre das beste für Syrien“, betont al-Daham im großzügigen Büro seines palastartigen Hauses auf dem Land bei Kamischli. „Aber alle wichtigen Entscheidungen treffen nicht die lokalen Akteure, sondern liegen allein in den Händen der internationalen Mächte.“

Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.

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