Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht in der deutschen Politik Nachholbedarf bei der Gleichberechtigung. „Wenn man so manche Koalitionsausschuss-Bilder sieht, dann freut man sich, dass es Bärbel Bas gibt“, sagte sie am Donnerstagabend bei einer Veranstaltung des Magazins „Stern“ in Berlin mit Blick auf die Bundesarbeitsministerin und Co-Parteichefin der SPD. Sie hatte zuletzt immer wieder als einzige Frau am Koalitionsausschuss teilgenommen. In dem informellen Gremium sprechen unter anderem Kanzler Friedrich Merz, CSU-Chef Markus Söder und die beiden SPD-Chefs Lars Klingbeil und Bas über die Vorhaben ihrer Regierung.
„Ohne Fördermaßnahmen setzt sich Artikel 3 Grundgesetz, also Frauen und Männer sind gleichberechtigt, nicht durch, nur weil wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben“, sagte Merkel weiter. Da brauche es Maßnahmen. „Es heißt oft, es gibt keine Frauen. Doch dann macht man es verbindlich und dann finden sich auf einmal doch jede Menge Frauen, die das prima machen.“ Sie selbst sei „Feministin, aber auf meine Art“, sagte Merkel. Das habe sie auch so in ihrem Buch geschrieben.
„Das wird die nächste große Schlacht“
Merkel äußerte sich auch zu aktuellen außenpolitischen Themen. So erwarte sie eine harte Auseinandersetzung mit den USA über notwendige Regeln für Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz. „Ich finde das einerseits faszinierend, aber andererseits schreit es danach, dass wir Leitplanken einsetzen, dass wir regulieren“, sagte sie.
„Das wird die nächste große Schlacht mit den Vereinigten Staaten von Amerika über die Frage, ob wir digitale Medien regulieren können oder nicht.“ Es werde ganz harten Druck geben, es nicht zu tun, sagte Merkel. Sie glaube aber, wenn man dem freien Lauf lasse und sich nicht interessiere, wie Algorithmen aussehen und wer darüber bestimme, „dass uns dann etwas weggenommen wird, was wir wissen müssen“.
Kritik an US-Sicherheitsstrategie
Merkel äußerte sich außerdem kritisch über die neue US-Sicherheitsstrategie. „Ich glaube, wir als Europäer sollten nie von uns aus das Band mit den Vereinigten Staaten von Amerika zerschneiden“, sagte sie. „Aber wir können das, wie wir jetzt angesehen werden, auch nicht akzeptieren.“ Merkel beklagte, dass Organisationen wie die Europäische Union als „Störenfriede“ gesehen würden und man versuche, einzelne Mitgliedsländer auf seine Seite zu ziehen.
„Das kann nicht in Europas Interesse sein“, sagte die frühere Kanzlerin und fügte auf eine entsprechende Frage hinzu. „Trotzdem bleiben Blue Jeans, Bruce Springsteen und die Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika natürlich Sehnsuchtsorte, und Amerika kann uns so viel kulturell bieten, auch heute noch.“ Die Menschen in den USA seien auch nicht eine homogene Gruppe. „Es gibt ja auch viel Streit dort, und ich hoffe, dass dieser Streit auch geführt wird.“
„Angelernte“ Bundesrepublikanerin? „Das hat mich aufgeregt“
Nach eigenem Bekunden hat die Ex-Kanzlerin inzwischen auch Abstand von ihrer typischen Geste mit aneinandergelegten Händen in Form einer Raute genommen. „Ich mache sie eigentlich nicht mehr“, sagte sie weiter. „Es passt nicht mehr so richtig.“
Sie erlebe aber immer mehr, dass Leute neben ihr die „Raute“ machten. „Da muss ich immer scharf gucken“, berichtete die 71-Jährige und fügte im Scherz hinzu: „Das ist dann sozusagen plagiatsverdächtig.“
Einmal mehr äußerte sich Merkel verärgert darüber, einmal als „angelernte“ Bundesrepublikanerin bezeichnet zu worden. „Da blitzte es dann durch, dass ich nur eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin sein soll“, sagte sie. „Das muss einen aufregen, das hat mich aufgeregt.“
Die Formulierung „angelernte Bundesdeutsche und Europäerin“ fiel 2021 in einem WELT-Kommentar von Thomas Schmid zum Ende von Merkels Kanzlerschaft. Die ganze Passage im Wortlaut:
„Und die neue Bundeskanzlerin erntete ungerührt die Früchte eines Anderen: Gerhard Schröders und seiner Agenda 2010. Sie schien sich geschworen zu haben, nie wieder leidenschaftlich, nie wieder als Überzeugungstäterin aufzutreten. Fortan wurde über Fehler der Vergangenheit kein Wort mehr verloren und programmatische Zukunftsskizzen unterblieben. Und die graue Karawane einer scheinbar ambitionslosen Vernunft zog unbeirrbar weiter. In eine Zukunft, die immer so aussehen würde wie die Gegenwart.
Das aber führte dazu, dass Angela Merkel Kehrtwendungen, die sie dann doch machte, fast sprach- und erklärungslos vollzog. So bei der gleichgeschlechtlichen Ehe, so bei der kopflosen ‚Energiewende‘. Und so vor allem 2015, als sie mit guten Gründen die Grenzen für Flüchtlinge offen ließ und leichthin behauptete ‚Wir schaffen das‘. Hier war sie mit ihrem mageren Latein am Ende.
Sie tat etwas Richtiges, verstand aber nicht, es zu erklären, und säte damit eine deutsche Zwietracht, die bis heute anhält. Und sie tat etwas, was keiner ihrer Amtsvorgänger je getan hatte: Sie distanzierte sich einen Atemzug lang von der Republik, deren zweite Dienerin sie doch war.
Sie sagte: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in der Flüchtlingskrise ein freundliches Gesicht gezeigt zu haben, ‚dann ist das nicht mein Land‘. Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist.
Wohl kein anderer Politiker ist international so anerkannt wie sie. Das hat mit ihrer Verlässlichkeit und damit zu tun, dass sie – von Putin und Erdogan einmal abgesehen – alle anderen ausgesessen hat. Niemand konnte sie auf internationaler Bühne aus der Fassung bringen, keine Nacht war ihr zu lang.“
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