Es begann mit einem Manöver, das in Militärkreisen als Vorstufe eines Angriffs gilt: Südöstlich der japanischen Insel Okinawa richteten chinesische J-15-Jets am vergangenen Samstag ihre Feuerleitradare auf japanische F-15-Kampfflugzeuge – ein Schritt, der Piloten zwingt, in Sekunden zu entscheiden, ob sie ausweichen oder zurückschießen werden.
Japans Verteidigungsminister Shinjiro Koizumi sprach von einem „gefährlichen“ und „äußerst bedauerlichen“ Vorgang – der haarscharf in tatsächlichem Raketenbeschuss hätte enden können –, die Regierung in Tokio bestellte den chinesischen Botschafter ein. Peking wies alle Vorwürfe zurück und erklärte, japanische Jets hätten chinesische Manöver „böswillig belästigt“.
Dasselbe Ereignis, zwei diametral verschiedene Deutungen. Der Vorfall im Ostchinesischen Meer steht für eine größere Verschiebung, die sich in der Region gerade vollzieht: Japan rückt sicherheitspolitisch an die USA, die Philippinen und Indien heran, während China empfindlich auf jede Äußerung aus Tokio reagiert, die sich gegen seine Kerninteressen richtet. Im Mittelpunkt: die demokratisch regierte Insel Taiwan, die Peking für sich beansprucht. Die Zielverfolgung, militärisch Radar-Lock genannt, ist damit weniger ein militärtechnisches Detail als vielmehr ein Symptom wachsender geopolitischer Konfrontation.
„Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass ein Kampfflugzeug im Frieden sein Feuerleitradar auf ein anderes richtet“, sagt Drew Thompson, Forscher an der S. Rajaratnam School of International Studies in Singapur. Zuletzt hatte 2013 eine chinesische Fregatte nahe der Senkaku-Inseln, in China Diaoyu-Inseln genannt, ein japanisches Schiff per Zielverfolgung ins Visier genommen; auch damals sprach Tokio von einer „Extrem-Eskalation“.
Die unbewohnte Inselgruppe, von Japan verwaltet, aber von China historisch beansprucht, ist einer der gefährlichsten Brennpunkte der Region: Sie liegt auf strategisch wichtigen Seewegen, bietet reiche Fischgründe und potenzielle Rohstoffvorkommen. Jetzt, zwölf Jahre später, falle der Zwischenfall nahe Okinawa sogar in eine Phase wachsender politischer Spannungen, sagt Experte Thompson. Die Eskalationsspirale begann nicht über Okinawa – sondern im japanischen Parlament.
Noch Ende Oktober stand Japans Premierministerin Sanae Takaichi neben Chinas Staatspräsident Xi Jinping auf einer Bühne in Südkorea, höflich lächelnd, fast gelöst. Keine 30 Tage später sprach ein chinesischer Diplomat davon, man müsse ihr „den schmutzigen Kopf abschlagen“. Was war passiert? Ein einziger Satz. Anfang November erklärte Takaichi im Parlament, ein Angriff Chinas auf Taiwan könne eine für „das Überleben Japans bedrohende Situation“ darstellen. Aus Sicht Tokios ist das nachvollziehbar: Taiwan liegt nur rund 100 Kilometer von der südlichsten japanischen Insel entfernt und kontrolliert für Tokio zentrale Seewege.
Die chinesische Reaktion folgte sofort und war drastisch. Staatsmedien bezeichneten Takaichi als „Hexe“, Kommentatoren erklärten, wer sich zu Taiwan äußere, „schaufle sein eigenes Grab“. Für Peking gilt die Insel und der Plan, sie wieder mit dem Festland zu vereinen, als „innere Angelegenheit“, die nicht verhandelbar ist.
Strategische Weichenstellung für Tokio
Eine historische Komponente kommt hinzu: Taiwan war bis 1945 japanische Kolonie. Für viele Chinesen ist jede japanische Aussage zu Taiwan bis heute ein Echo vergangener Demütigungen. Peking setzte in diesen Tagen daher ein Maßnahmenpaket in Gang: diplomatische Beschwerden bei den Vereinten Nationen, neue Importstopps für japanische Meeresprodukte, Warnungen an Touristen und Studierende, Absagen kultureller Veranstaltungen sowie eine sichtbar intensivere Präsenz der Küstenwache rund um die Senkaku-Inseln.
Als der deutsche Außenminister Johann Wadephul Anfang der Woche in Peking war, erklärte sein Amtskollege Wang Yi, Japan bedrohe China „militärisch“ – ein Vorwurf, der die Rollen bewusst vertauscht. Japan habe chinesische Übungen „provoziert“, sagte Wang laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, und Takaichi versuche, „die Taiwan-Frage auszunutzen, um China zu bedrohen“. Er verwies dabei explizit auf Japans koloniale Vergangenheit und bezeichnete das Verhalten Tokios als „völlig inakzeptabel“.
Für Tokio bestätigt der Zwischenfall eine strategische Weichenstellung. „Der Radar-Lock-Vorfall zeigt, warum Japan in seiner nationalen Sicherheitsstrategie von 2022 den Fokus auf den Südwesten gelegt hat“, sagt Robert Ward vom International Institute for Strategic Studies (IISS). „Diese Region ist das japanische Territorium, das Taiwan am nächsten liegt – dort bündelt Tokio nun seine Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten.“ Auf entlegenen Inseln wie Yonaguni entstehen neue Radarstationen und Raketenstellungen.
Damit setzt Japan einen Kurs fort, der seinen zuvor lange demonstrierten Pazifismus spürbar aufweicht. Jahrzehntelang waren die Streitkräfte durch Artikel 9 der Verfassung strikt auf Selbstverteidigung beschränkt. Doch seit 2015 erlaubt Tokio erstmals „kollektive Selbstverteidigung“ – also militärische Unterstützung von Verbündeten.
Gleichzeitig steigen die Verteidigungsausgaben so stark wie seit dem Koreakrieg nicht mehr: Bis 2027 will Tokio das Budget auf rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppeln; schon 2024 lagen die Ausgaben mit mehr als 53 Milliarden US-Dollar auf dem höchsten Stand der Nachkriegszeit. Die nationale Sicherheitsstrategie bezeichnet China offen als „größte strategische Herausforderung“ und sieht den Aufbau von Gegenangriffskapazitäten vor.
Experte Ward beobachtet einen strukturellen Wandel: „Die Verschlechterung der Beziehungen zu China bestätigt Japans Kurswechsel. Sie verdeutlicht, warum Tokio andere Länder davon überzeugen will, dass die Sicherheit Taiwans eine internationale Frage ist.“
Netzwerk von Allianzen
Japan bindet sich auch aus diesem Grund enger an die USA und Partner wie Australien, die Philippinen und Indien. Dabei knüpft Tokio an eine langfristige Entwicklung an: Schon seit den 2000er-Jahren baut es gemeinsam mit Washington und Canberra ein immer dichteres sicherheitspolitisches Netzwerk auf – von regelmäßigen trilateralen Treffen über gemeinsame Großmanöver wie „Talisman Sabre“ mit rund 35.000 Soldaten bis hin zum Quad-Format mit Indien. Neu ist heute weniger die Kooperation an sich, sondern ihre Intensität und ihr klarer Fokus auf ein mögliches Taiwan-Szenario.
Hinzu kommt, dass sich auch europäische Staaten – von Großbritannien bis Frankreich – zunehmend an regionalen Manövern beteiligen. Für Tokio ist das ein Signal, dass Chinas Verhalten nicht nur ein bilaterales Problem ist, sondern eine Herausforderung für die internationale Ordnung insgesamt. Die Region wird damit zu einem Knotenpunkt, an dem sich westliche und indopazifische Sicherheitsinteressen immer stärker überlappen.
Auch Washington stellte sich diese Woche klar hinter Tokio. Das Außenministerium verurteilte das chinesische Vorgehen und betonte: „Die US-japanische Allianz ist stärker und geeinter denn je.“ Nur einen Tag nach dem Zwischenfall traf Verteidigungsminister Koizumi seinen australischen Amtskollegen Richard Marles; beide kündigten an, ihre sicherheitspolitische Koordination auszubauen. „Australien wird an Japans Seite stehen“, sagte Marles.
Für Peking ist genau das der Kern des Problems. „Die Modernisierung der Volksbefreiungsarmee richtet sich primär auf ein Taiwan-Szenario“, sagt Forscher Thompson aus Singapur. „Andere Länder reagieren darauf mit höheren Verteidigungsausgaben und kollektiver Sicherheit. Das frustriert Peking – und begrenzt seinen politischen und militärischen Spielraum.“
Die Spannungen folgen einem Muster. Schon 2010 und 2012 führten Zwischenfälle rund um die Senkaku-Inseln zu schweren diplomatischen Verwerfungen. Die aktuelle Auseinandersetzung droht ein noch gefährlicheres „Normal“ zu schaffen – mit Taiwan als explosivem Zentrum. „Unprofessionelle und bewusst gefährliche militärische Aktionen erhöhen das Risiko eines Fehlers, der sehr schnell in einen Konflikt umschlagen kann“, warnt Thompson. Ein Missverständnis – und zwei Atommächte (China und die USA) könnten in eine Dynamik geraten, die niemand kontrollieren kann.
Der Radar-Lock bei Okinawa war deshalb mehr als ein gefährlicher Zwischenfall. Er war ein Signal, dass der sicherheitspolitische Wettbewerb in Ostasien in eine Phase eintritt, in der Fehler weniger verziehen werden, Allianzen enger werden und Taiwan zum Prüfstein einer Ordnung wird, von der die Stabilität der gesamten Welt abhängt.
Für Tokio steht fest: Eine Rückkehr zu strategischer Distanz ist nicht mehr möglich. Japan verankert sich tiefer denn je im amerikanischen Schutznetz und sucht aktiv nach Partnern von Canberra bis Manila – aus schierer Notwendigkeit. Für Peking hingegen ist jede Taiwan-bezogene Aussage aus Japan oder anderswo ein Angriff auf ein Kerninteresse, das nicht verhandelbar ist. Je deutlicher Tokio Taiwan als internationale Frage behandelt, desto aggressiver reagiert die Volksrepublik. Genau in diesem Spannungsfeld liegt der gefährlichste Punkt im Pazifik.
Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.
Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.