Jens Spahn sitzt in einem großen Sitzungssaal des Paul-Löbe-Hauses im Berliner Regierungsviertel, hinter ihm die Spree im Sonnenschein, und lächelt. Er blickt am Montagmittag aufgeregt durch die gut gefüllten Sitzreihen, ein paar Zettel liegen vor ihm auf dem Tisch. Was nach Alltag für den Chef der Unionsfraktion im Bundestag klingt, ist es nicht.

Denn Spahn ist als ehemaliger Bundesgesundheitsminister vor der Corona-Enquete-Kommission des Bundestags geladen. Er soll zur sogenannten Maskenaffäre befragt werden, zu Vorwürfen der Vetternwirtschaft und des Missmanagements in der Pandemie-Bekämpfung.

Neben Spahn sitzen entsprechend nicht zwei Fraktionskollegen, sondern mit Oliver Sievers vom Bundesrechnungshof und der ehemaligen Staatssekretärin Margaretha Sudhof zwei Sachverständige, die dem Ex-Minister dramatische Zeugnisse für seine Arbeit in den ersten Corona-Monaten 2020 ausgestellt haben. Die im Juli eingesetzte Kommission soll die Corona-Maßnahmen aufarbeiten und Lehren für mögliche künftige Pandemien ziehen. Bis 2027 tagt das Gremium.

Im Zentrum der Affäre stand zuletzt ein Bericht der Juristin Sudhof, die im Auftrag des Spahn-Nachfolgers Karl Lauterbach (SPD) die Masken-Beschaffung untersuchte. Der eigentlich interne Bericht aus dem Januar fand den Weg in die Öffentlichkeit. Deutschland sei zwar gemessen an Erkrankten und Verstorbenen verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen, schreibt Sudhof darin, auch die zentrale Steuerung der Aktivitäten über einen Covid-Krisenstab sei richtig gewesen.

Doch das Urteil über die Masken-Beschaffung fällt verheerend aus: „Fehlendes ökonomisches Verständnis und politischer Ehrgeiz können aber, wie in diesem Fall, dazu führen, dass nicht als Team ‚Staat‘, sondern als Team ‚Ich‘ gehandelt wird.“ Das „Drama in Milliarden-Höhe“ habe mit der Entscheidung Spahns begonnen, „nachweislich gegen den Rat seiner Fachabteilungsleitungen, sich fachfremd und ohne Arbeitsmuskel mit Milliardensummen auf dem Gebiet der Beschaffung betätigen zu wollen“, so Sudhof.

Spahn habe die Beschaffung „allein meistern“ wollen – und sich über internen Rat und Zuständigkeiten hinweggesetzt. Die „schlichten und widersprüchlichen Vertragswerke“ – verfasst auf „wenigen Seiten und ohne konkrete Leistungsbeschreibung“ – beschäftigten den Bund bis heute.

Eine Stellungnahme des Bundesrechnungshofs an die Kommission zeigt, wie die Beschaffung am Bedarf der Pandemie-Bekämpfung offenbar vorbeiging. Über 7 Milliarden Euro gab das Bundesgesundheitsministerium demnach für die Beschaffung von Schutzmasken in der Pandemie aus. Dabei entfielen 5,9 Milliarden Euro auf den Erwerb von 5,8 Milliarden Masken. Ein zu hoher Festpreis und „massive Überbeschaffung“, so der Bundesrechnungshof. Mit der Auslieferung von 423 Millionen Masken bis Juli 2020 habe man zwar „eine zu Beginn der Pandemie drohende Versorgungskrise in der Akutmedizin erfolgreich abgewehrt“, schreibt Sievers.

3,4 Milliarden Masken bald vernichtet

Doch bis heute seien nur 1,7 Milliarden Masken im Land verteilt worden. „Inwieweit sie tatsächlich zu Pandemiezwecken eingesetzt wurden, ist ungewiss.“ Mit über 3,4 Milliarden Masken sei der „überwiegende Teil der Beschaffungen“ bereits vernichtet oder stehe zur Vernichtung an. Bis Ende 2027 wird mit 627 Millionen Euro an Folgekosten für jene Überbeschaffung gerechnet.

Bis Ende März 2020 habe das Ministerium viele Einzelverträge geschlossen, aus denen teure und große Lieferungen resultierten. Sievers Urteil: „Spätestens im April 2020 hatte sich die Beschaffungspraxis des BMG völlig von dem Beschaffungsziel entfernt.“ Auch wenn das Ministerium bis heute eine Überbeschaffung bestreite, sehe man weder eine sachliche Notwendigkeit für die Einkäufe noch ein politisches Mandat. Nur ein Bruchteil der beschafften Masken sei wirksam zur Pandemie-Bekämpfung eingesetzt worden. Von Dauer waren die teuren Einkäufe laut Bundesrechnungshof ebenso nicht: „Die Versorgungssicherheit mit Schutzausrüstung im Gesundheitswesen ist nach wie vor nicht gewährleistet.“

Am Montagmorgen, einige Stunden vor seiner Befragung, versuchte Spahn die Wogen zu glätten. Man habe zu viele Desinfektionsmittel, Beatmungsgeräte, Impfstoffe und Schutzmasken beschafft, räumte der heutige Unionsfraktions-Chef im ARD-„Morgenmagazin“ ein. „Aber wir wollten eben in der damaligen Lage vorsorgen für alles, was kommen konnte. Wir hatten am Anfang von allem zu wenig und am Ende von allem zu viel – besser als andersherum“, sagte Spahn. Es habe einen Masken-Engpass zu Beginn der Pandemie gegeben, es sei gar zu Diebstählen aus Kliniken gekommen. In der Bundesregierung habe man entschieden: „Es soll lieber Geld kosten als Menschenleben, als Gesundheit.“

Spahn verteidigt seine Handlungen auch im Ausschuss mit der ausgesprochenen Ausnahmesituation. „Es gab damals keine Blaupause“, sagt Spahn vor der Kommission. Die Bilder aus Bergamo, New York und London habe man unbedingt in Deutschland verhindern wollen, so der damalige Gesundheitsminister mit Verweis auf erste kursierende Schreckensbilder.

„Es hat zu Wildwest geführt.“ Die ganze Welt habe die gleichen Produkte kaufen wollen, man habe mit Regierungschefs und Königen konkurriert. Da habe er sich entsprechend auch selbst einbringen wollen. „Da konnte ich jetzt schlecht auf Referatsebene anrufen lassen.“

Für Pflegekräfte, medizinische Angestellte und Ärzte, aber auch für Bundespolizisten habe man einen Vorrat kaufen wollen, betont Spahn. Klinikleiter hätten ihn angerufen und berichtet, den Betrieb kaum aufrechterhalten zu können. Ministerpräsidenten hätten von ihm Einkäufe von Masken gefordert. „Keiner im Ministerium wollte Masken beschaffen. Wir mussten Masken beschaffen“, so Spahn. Man habe sich auf eine dritte und vierte Infektionswelle einstellen müssen sowie den zeitweise zum Erliegen gekommenen Handel mit China berücksichtigen müssen.

In der anschließenden Befragung Spahns stellt die AfD kaum eine Frage zur Masken-Beschaffung, dem eigentlichen Thema der Anhörung. Vielmehr will etwa der AfD-Bundestagsabgeordnete Michael Nehls über die vermeintliche Herkunft des Corona-Virus aus einem „Biowaffenlabor“ sprechen. Seine Fraktionskollegin Christina Baum fragt nach einem „gefährlichen Potenzial für gesundheitliche Schäden“ des mRNA-Impfstoffs gegen das Virus – und wieso keine „kritischen Wissenschaftler“ in die Arbeit der Bundesregierung eingebunden worden sein. Der von der AfD geladene Sachverständige Tom Lausen fragt Spahn, wieso er „Jagd auf Ungeimpfte“ betrieben habe.

Für die „Frage der Gefährlichkeit“ des Virus sei nicht die Herkunft, sondern die Wirkung des Virus relevant für sein Handeln als Gesundheitsminister gewesen, antwortet Spahn. Kritische Stimmen hätte er von Anfang an gehört, das hätte man der Öffentlichkeit besser kommunizieren oder die Gespräche institutionalisieren sollen. Die Sozialdemokraten werfen der AfD vor, gar kein ernsthaftes Interesse an einer Aufklärung zu haben „Ihnen geht es nur ums Videoschnipsel-Produzieren“, sagt der SPD-Abgeordnete Daniel Rinkert.

Die Grünen gehen von einem Steuerschaden von 10 Milliarden Euro aus. „Alles heute mit dem Argument: Es war ja Krise“, kritisiert die Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta in der Anhörung. Bei vielen steuerzahlenden Bürgern dränge sich der Eindruck auf, so Piechotta, „dass in der Krise ohne Verstand ihr Steuergeld durch den Schornstein gejagt wurde“. Spahn dazu: „Nicht ich habe Geld ausgegeben, sondern der Bund hat beschafft.“

Es wird ein einziges Mal hitzig im Saal. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik sinke angesichts der diskutierten Maskenaffäre, sagt Piechotta. Viele bekämen das Gefühl, dass manche in der Pandemie sich bereichert hätten. „Haben Sie sich persönlich bereichert in den Jahren 2020 und 2021?“, fragt Piechotta den ehemaligen Gesundheitsminister. „Nein“, sagt Spahn. Und schickt eine Mahnung hinterher: Piechotta solle seine Antwort ernst nehmen und mit „verleumderischen Mutmaßungen und Theorien aller Art“ in der Öffentlichkeit aufhören.

Zum für ihn so dramatischen Sudhof-Bericht sagt Spahn noch, dass er sich über die Möglichkeit zur persönlichen Stellungnahme gefreut hätte. Sudhof berichtet daraufhin: Der Pressesprecher Spahns hätte ihr gesagt, dass der Ex-Minister dafür nicht zur Verfügung stehe – denn er habe in seinem Buch zur Pandemie und einem Spiegel-Interview bereits alles gesagt.

Vor dem Sitzungssaal ist es schon dunkel, als Spahn seine Unterlagen zusammenpackt. Er lächelt wieder. Sudhof und Sievers gibt er zum Abschied die Hand und geht.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht.

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