Achim Brötel, 62, ist seit 2005 Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises und seit 2024 Präsident des Deutschen Landkreistages. Der promovierte Jurist ist Vater von zwei Kindern und gehört der baden-württembergischen CDU an.
WELT: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat für das erste Quartal des neuen Jahres Verhandlungen mit Bund, Ländern und Kommunen angekündigt, in denen es darum gehen soll, die Finanznot der deutschen Kommunen zu lindern. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in diese Gespräche, Herr Brötel?
Achim Brötel: Eines steht unzweifelhaft fest: Angesichts eines kommunalen Defizits von inzwischen deutlich mehr als 30 Milliarden Euro pro Jahr muss dringend etwas passieren. Wer die Lebenswirklichkeit weiter ignoriert, spielt mit dem Feuer. Wir erwarten insofern von Bund und Ländern jetzt endlich strukturelle Maßnahmen, die unser Defizit substanziell und dauerhaft auflösen. Schöne Worte allein machen nicht satt.
WELT: Welche Maßnahmen sollten das sein?
Brötel: Nach vorne gerichtet bedeutet das, dass sich die Länder nicht länger wegducken dürfen. Dort und nur dort liegt die verfassungsrechtliche Verpflichtung, eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen sicherzustellen und vor allem auch bei neuen Aufgaben unsere entstehenden Mehrbelastungen vollständig und rechtzeitig auszugleichen.
Und: Diese Verpflichtung besteht nicht etwa nach Lust und Laune oder eigener Kassenlage, sondern ohne Wenn und Aber und ohne irgendwelche zeitlichen Verzögerungen. Wir erwarten deshalb endlich eine belastbare Selbstverpflichtung der Länder, dieses in allen Landesverfassungen verankerte Prinzip auch tatsächlich in sämtlichen Konstellationen anzuwenden, anstatt dauernd nach neuen Ausflüchten zu suchen.
WELT: Die Länder ihrerseits verweisen allerdings auf die aus ihrer Sicht viel zu hohen Ansprüche, die insbesondere durch die Sozialgesetzgebung auf sie und damit eben auch auf die Kommunen zukommen. Welcher Maßnahmen bedürfte es also, um dieses Schwarzer-Peter-Spiel zwischen den unterschiedlichen staatlichen Ebenen zu beenden?
Brötel: Wer meint, sich einen Sozialstaat in seiner jetzigen Ausprägung noch leisten zu können, muss auch die notwendigen finanziellen Mittel dafür zur Verfügung stellen. Dass der eine die Rechtsansprüche munter ausweitet, während andere sie bezahlen sollen, funktioniert nicht. Wenn wir uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten können, müssen wir ehrlicherweise drangehen, ihn wieder auf ein bezahlbares Maß zurückzuführen.
WELT: Das heißt?
Brötel: Es kann nicht sein, dass uns die Kosten weiter davonlaufen. Diese Ausgabendynamik muss deshalb als Erstes gebrochen und auf Sicht wieder umgekehrt werden. Aktuelle Zuwachsraten von mehr als zehn Prozent pro Jahr hält kein kommunaler Haushalt aus. Deshalb wird kein Weg daran vorbeiführen, den Sozialstaat wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Mehr als 500 einzelne Sozialleistungen allein auf der Ebene des Bundes – so etwas geht einfach nicht mehr, nicht in guten Zeiten, erst recht aber nicht in wirtschaftlich schlechteren. Es darf deshalb weder Denkverbote noch Tabus geben, wenn es um Kosteneinsparungen und Strukturkorrekturen geht.
WELT: Welche Kosten, welche Strukturen?
Brötel: Das Verhältnis von Ausgabebelastung und eigenen Einnahmen muss wieder ins Lot gebracht werden. Wer wie die Kommunen nur ein Siebtel der Steuereinnahmen erhält, damit inzwischen aber knapp ein Drittel der Ausgaben bestreiten soll, stößt schnell an seine Grenzen. Ob es die Politik wahrhaben will oder nicht: Die Grundregeln der Mathematik lassen sich auch durch Beschlüsse politischer Gremien nicht aus den Angeln heben.
Also müssen die sozialen Leistungen zwingend wieder auf wirklich Bedürftige konzentriert werden. Deshalb brauchen wir beispielsweise in der Sozialhilfe wieder den Rückgriff auf die Unterhaltspflichtigen oder beim Bürgergeld die Streichung der Karenzzeiten, die uns momentan selbst zur Übernahme unangemessen hoher Mieten verpflichten. Gerade die Schwachen brauchen ein starkes soziales Netz. Wer aber nicht schwach ist, muss einfach wieder vermehrt für sich selbst sorgen. Nur mit diesem Zweiklang können wir die uns obliegenden kommunalen Aufgaben überhaupt noch erfüllen.
WELT: Welche kurzfristigen Maßnahmen des Bundes und der Länder könnten die akute Finanznot vieler Kommunen lindern?
Brötel: Ein erster zentraler und direkt wirksamer Schritt wäre es, den kommunalen Anteil an der Umsatzsteuer mindestens zu verdreifachen, was der kommunalen Ebene pro Jahr insgesamt rund zwölf Milliarden Euro zusätzlich einbringen würde. Leicht umsetzbar wäre zudem ein Wiederaufgreifen der Übernahme der flüchtlingsbedingten Unterkunfts- und Heizkosten durch den Bund. Zwischen 2015 und 2021 hatte es eine solche Regelung bereits gegeben. Die Ampel hat sie dann aber kurzerhand gestrichen.
Seither sind in den kommunalen Kassen Mehrbelastungen von insgesamt rund elf Milliarden Euro aufgelaufen, die wir nach der alten Rechtslage vom Bund erstattet bekommen hätten. Allein für das Jahr 2024 haben die Landkreise und Städte 3,4 Milliarden Euro nur für diesen einen Bereich aufgebracht. Der Bund hat bislang leider noch nicht einmal ansatzweise den Eindruck vermittelt, als ob er die Dramatik auf der kommunalen Seite überhaupt nur verstanden hätte.
WELT: Der Bundeskanzler hat angekündigt, im Rahmen der Gespräche über die Finanznot der Kommunen auch zu prüfen, auf welche Leistungen, die unter anderem aus den kommunalen Haushalten finanziert werden, künftig verzichtet werden kann. Oder ob diese Leistungen zumindest „intelligenter“ beziehungsweise „gezielter“ erbracht werden könnten. Welche Leistungen könnten das aus Ihrer Sicht sein?
Brötel: Die entscheidende Frage lautet: Wie kann ein leistungsfähiger Sozialstaat der Zukunft aussehen, der auf der einen Seite den Menschen verlässlich hilft, auf der anderen aber auch die Kommunen nicht länger strukturell überfordert. Deshalb müssen wir ganz sicher über eine deutliche Rechtsvereinfachung und wesentlich mehr Digitalisierung, genauso aber auch über Leistungsstandards und deren Finanzierung diskutieren. Wenn wir nicht alles aufs Spiel setzen, sondern den Sozialstaat zukunfts- und demografiefest machen wollen, gilt es deshalb, genau dort anzusetzen. Da hat der Bundeskanzler absolut recht.
Gleichwohl kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob die drängenden Fragen unserer Zeit eher in eine Vielzahl unterschiedlichster Kommissionen und Arbeitsgruppen verschoben als tatsächlich gelöst werden sollen. Da gibt es zum einen die Sozialstaatskommission, die aber die großen beitragsfinanzierten Systeme wie Rente, Gesundheit und Pflege überhaupt nicht auf ihrer Agenda hat. Kostenmäßige Großposten wie Jugendhilfe oder Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen werden zudem in jeweils eigenen Kommissionen behandelt. Am Ende zählt aber nicht die Zahl der Gesprächsformate, sondern allein das Ergebnis.
WELT: Ohne diese Kommissionen würde sich vermutlich gar nichts ändern beziehungsweise würde die Klientelpolitik der Bundestagsparteien zu immer noch mehr Aufgaben und damit Kosten für die Gemeinden vor Ort führen.
Brötel: Dass das alles andere als eine einfache Übung ist, wissen wir auch. Aber es gibt Lösungswege. Wir sprechen uns zum Beispiel dafür aus, das Renteneintrittsalter anteilig an die gestiegene Lebenserwartung anzupassen. Zugleich ist es wichtig, dass vorrangig verantwortliche Systeme ihrer Verantwortung auch nachkommen. Das sind zum Beispiel die Pflegekassen bei pflegebedürftigen behinderten Menschen. Dass diese Menschen bei einem Aufenthalt im Pflegeheim derzeit maximal 278 Euro aus der Pflegekasse erhalten statt etwa 2000 Euro wie nicht behinderte Pflegebedürftige, ist in unseren Augen schlicht ein Skandal. Den Differenzbetrag finanzieren wieder einmal wir.
Weiterhin stehen die Schulen bei behinderten Kindern und Jugendlichen und die Krankenkassen bei der medizinischen Behandlungspflege zentral selbst in der Pflicht. Immer mehr Lebensbereiche funktionieren in der Praxis nur noch deshalb, weil sie durch kommunale Leistungen quasi quersubventioniert werden.
Ulrich Exner ist politischer WELT-Korrespondent und berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.
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