An England, wie wir es traditionellerweise verkürzt nannten, interessierte mich schon immer mehr als die Sprache seine kulturelle Dominanz, seine politische Attraktivität. Das machte neugierig, wenn nicht neidisch. Wie konnte eine kleine, Europa vorgelagerte Insel ein solch unangreifbares Profil gewinnen? Als Kind des historischen Durcheinanders, 1940 im annektierten Danzig geboren, sperrte mir der Untergang meiner Heimatstadt jeden zuversichtlichen Weg nach vorn.
England wurde so etwas wie eine Ersatz-Identität, unbelastet. Bis heute ringe ich mit dem Historiker Götz Aly um die Frage: „Wie konnte das geschehen?“
In der Schule gab sich ein Deutschlehrer von Graden alle Mühe, meine Ur-Frage zu beantworten. Aber da er aus dem lothringischen Metz stammte, hatte seine historische Analyse immer etwas Unbefriedigendes für mich. In seiner Exegese erfuhren wir mehr über den Verlust von Metz als über das Schicksal Danzigs, mehr über den Ersten als über den Zweiten Weltkrieg.
Wenn er beide Ereignisse auf einen Nenner bringen wollte, entrang sich seiner gequälten Seele ein Fluch über das deutsche Erbe, den ich hier nicht auftischen möchte, so tief traf er mein Gleichgewicht. Andererseits immunisierte er mich gegen alle Versuche, im Nationalen das Allheilmittel für Krisen zu entdecken. Ich war zwölf und zum ersten Mal auf der Suche nach dem, was die Zerstörung nach 1945 übriggelassen hatte.
Ein Auto kam mir zu Hilfe, ein englisches. Unter all den Trümmern der Erinnerung lugte ein Vehikel hervor, das mein Vater für die Familie oder plötzliche Nothilfen, die ihn als Arzt drängen konnten, bereithielt. Die Aura des Adels umgab dieses englische Fahrzeug mit dem Namen Wol-se-ley. Dass er sich aussprach wie „Wulthee“ wusste zunächst niemand, und als es eines Tages herauskam, zitierte man es zukünftig als eine dieser britischen Idiosynkrasien, Wörter, deren Aussprache von ihrer Schreibweise abweichen – zur Verwirrung des Käufers.
Wenn meine Mutter nach dem Kriege einen Begriff suchte, der den Verlust von allem – Besitz, Sammlungen, Freundschaften und ja, Danzig – in ein Gesamtbild fassen sollte, seufzte sie: „Ach, der Wolseley!“ Niemals wieder berührte mich ein Wort in der Fülle seiner Vergeblichkeit so intensiv wie das englische Wolseley.
Im Taumel der Freiheit
Die 60er-Jahre entfalteten sich wie unter der Einwirkung des Magischen zu einem Triumph der Befreiung von alten britischen Zöpfen. Ich war meiner inneren Überzeugung gefolgt und hatte auf der Insel angedockt, zum Studium in Cardiff. So wurde ich zum Zaungast von Veränderungen, die England stoßweise in eine neue Ära globaler Wahrnehmung hineinbugsierten.
Das galt vor allem für den aufregenden dernier cri der Mode, Mary Quants Minirock, einem erotischen Ausrufezeichen. Die Beatles drückten dann der westlichen Pop-Kultur ihren musikalischen Stempel auf, und selbst die Monarchie gab ihre Visitenkarte in das allgemeine News-Getümmel, als Prinzessin Margaret im Mai 1960 Antony Armstrong-Jones heiratete, den späteren Lord Snowden, einen Fotografen der Sonderklasse.
Die Insel geriet in einen Taumel der Freiheit und riss auch mich in den Strudel des Kommenden. Es war D.H. Lawrence, dessen Roman „Lady Chatterley’s Lover“ im Dezember 1960 in einem aufregenden Prozess die Freigabe des Sexuellen auf dem englischen literarischen Markt durchsetzte, nachdem alle gegen ihn gezielten Zensurmaßnahmen seit seinem Erscheinen 1928 gescheitert waren.
Nach einer sechstägigen Anhörung gab die Jury die Publikation des als „obszön“ gegeißelten Romans frei. Der Verlag Penguin feierte einen historischen Durchbruch – noch am Tag der Freigabe fanden alle 200.000 für diesen Augenblick gehorteten Exemplare ihre Käufer. Philip Larkin, der Lyriker, dichtete später in „Annus Mirabilis“ (Wunderjahr) einen sarkastischen Toast auf die sexuelle Befreiung:
Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(which was rather late for me) –
Between the end of the „Chatterley“ ban
And the Beatles’ first LP.
London kam zögerlich in Fahrt. Die Freizügigkeit, die sich mit dem Erfolg des Chatterley-Prozesses allenthalben durchzusetzen begann, lebte noch immer nach einem moralischen Komment. Wer beispielsweise als Nicht-Verheirateter in den Bed-and-Breakfast-Adressen in Sussex Gardens gebucht hatte, musste damit rechnen, im Zweifelsfall von der Rezeption bis in seine natürlich getrennten Zimmer begleitet zu werden; so streng waren die Sittengesetze.
Die Souveränität des Einzelnen
Wenigstens zweimal im Jahr führte der Weg aus der walisischen Universität, wo ich als Lektor für Deutsch angestellt war, nach London. Es war die musikalische Zentrale „His Master’s Voice“ in der Oxford Street (HMV), die es mir besonders angetan hatte.
Wie zum Triumph erwarb ich zur Weihnachtszeit 1961 eine neue Einspielung von Mendelssohns Violinkonzert – der Gang nach London hatte sich offensichtlich wieder einmal gelohnt – bis ich, zu Hause angekommen, feststellen musste, dass die Aufnahme des Konzerts zu wünschen übrigließ. Zum Glück offerierte im England jener Jahre der Einzelhandel günstige Konditionen: Zusammen mit dem Kaufbeleg und der Unberührtheit der reklamierten Ware nahm die Geschäftswelt anstandslos den corpus delicti zurück und bot zum gleichen Preis Ersatz an.
Halb getröstet machte ich mich 1962 auf die nächste London-Tour, um den Kaufgegenstand meines missratenen letzten Besuches loszuwerden und gegen Gleichwertiges umzutauschen. Doch welche Enttäuschung: HMV hatte mit der Firma, die den Mendelssohn vertrieb, inzwischen keine Geschäftsverbindung mehr. Rücknahme ja, aber nicht bei Partnern, mit denen nicht mehr gehandelt wird.
Mein Gesicht muss die große Enttäuschung ob dieser Mitteilung gespiegelt haben, jedenfalls bewegte sich der Angestellte zu einem deutlichen „Sorry“ – aber mit einer unerwarteten Botschaft: „Geben Sie doch mal diese Langspielplatte her“, forderte er mich auf und vollführte mit einem seiner Daumen einen Vernichtungsakt auf der Vinyl-Platte, indem er einen tiefen Kratzer in die LP-Rillen senkte. „So, jetzt ist die Schallplatte beschädigt – und beschädigtes Gut nehmen wir natürlich immer zurück.“
Der Schock machte mich sprachlos. Da nimmt ein Angestellter die Lösung einer Krise in seine Hand – er ruft nicht nach einem Vorgesetzten, versteckt sich nicht hinter einer Autorität. Er hat eine bürokratische Lage vor sich und erkennt blitzschnell, dass hier eine Lösung nach Befreiung ruft. Mehr als das: Das Prinzip der Freiheit ahnt seine Chance, sich als Maßstab durchzusetzen. Alle Niederlagen, die uns die verwaltete Welt zufügt, werden für einen Moment irrelevant; gegen die Selbstständigkeit eines Mutigen sind vorgeformte Regeln machtlos, unterliegen der Souveränität des Einzelnen.
Was für ein Land! Die Aussicht, solche Gesetzmäßigkeiten der Freiheit weiter kennenzulernen, bestimmte meinen Entschluss zu bleiben und zu lernen und dem Wolseley meines Vaters als Beweisstück der Unabhängigkeit nachzueifern. Dass daraus 34 Jahre würden, konnte ich nicht ahnen. London wurde mein englisches Vademecum.
Alte Helden
Ich gestehe freimütig meine Schwäche: England räkelte sich in den 60er-Jahren in seiner wie im Abendsonnenschein verblasster Größe. Und ich wähnte mich, während Churchill seine zweite Amtszeit im Glanz seines Lebens zu Ende brachte, als Teilnehmer einer großen Geschichte, mit London als dem Tonangeber. Nur glaubte sonst niemand so recht an diese Konstellation.
Befragt, welche Rolle England in Europa zu spielen gedenke, hatte Konrad Adenauer vor dem Bundesvorstand seiner Partei im März 1953 zu Protokoll gegeben: „Es ist mir sehr lieb, wenn Großbritannien in der zukünftigen EVP (Europäische Verteidigungsgemeinschaft, d. Red.) einen gewissen Einfluss hat, damit wir mit den mehr oder wenigen hysterischen Franzosen nicht allein sind.“ Aber sein Urteil über England verfestigte sich, bis er auf einem Treffen der Jungen Union in Konstanz 1958 feststellte: „Meine Damen und Herren, ich kann et nur wiederholen, Jroßbritannien is kein europäisches Land.“
Und doch empfand sich das Land noch lange Zeit über als Garant der europäischen Ordnung. Auf der Gedenkfeier für den Seehelden Horatio Nelson am 9. November 1805 nach der Schlacht von Trafalgar, der Niederlage Frankreichs, konstatierte Premierminister William Pitt der Jüngere, England als Vorbild werde es schaffen, „dass Europa gerettet wird.“
Mit Helden war England immer gut versorgt. In den 60er-Jahren übernahm ein schottischer Filmschauspieler diese Rolle. James Bond, Commander Bond, machte als Agent 007 seinen Auftraggebern alle Ehre. Erneut nahm England mit seinem Sinn fürs Entertainment das Globale Dorf für sich ein, und wurde Sean Connery zum Begriff des siegreichen Film-Helden.
Es war eine Zeit, in der es sich wohlfühlte, wenn man sich in Kino-Sitzen zurücklehnen konnte, das Bier und den Aschenbecher neben sich und James Bond leinwandgroß vor sich, wie er im Dienste Seiner Majestät dem nächsten Bösewicht das Handwerk legte. Nach Ende des letzten Kinostreifens des Tages erklang „God save the Queen“, und die Zuschauer erhoben sich aus ihren Sitzen – es unterlag keinem Zweifel, was sich gehörte. Dafür spielten Namen, die zum internationalen Theater-Set gehörten, ihren britischen Teil – Lotte Lenya etwa begegnete uns noch im zweiten James-Bond-Film mit „Liebesgrüße aus Moskau“ (1963) als verdeckte Spionage-Agentin.
Kein Wunder, dass die englische Politik an dem aufkeimenden Europa wie achtlos vorbeizugehen schien – es verfügte über ein ausreichendes Polster an Events, um das heimische Publikum bei Laune zu halten und ihm zu suggerieren, England sei eine große Nummer, mit überwältigenden Talenten fürs Globale Dorf, eingeschlossen handfeste Skandale. Schier endlos lang profitierte die Presse von dem konservativen Kriegsminister John Profumo und seiner Beziehung zu dem Callgirl Christine Keeler sowie dessen Kontakte zu dem sowjetischen Marine-Attaché.
Als sich im Juni 1955 die sechs Außenminister der europäischen Gründungsstaaten zu einer Konferenz über die künftige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) trafen, antwortete London mit einer kalten Dusche: „Es kann natürlich keine Frage sein, dass wir uns jemals einer supranationalen Organisation anschließen werden.“
Orientierungslosigkeit und Chaos
Keine Frage? Acht Jahre später fand sich die Insel als Bittsteller vor der Tür der Europäischen Gemeinschaft (EG), um Einlass bittend in dieser „supranationalen Organisation.“ Frankreich legte sein Veto ein, im Dezember 1967 zum zweiten Mal. Welche Ironie, dass die Briten den 1973 endlich vollzogenen Beitritt, um den man so gekämpft hatte, 2016 wieder rückgängig machten und in das Brexit-Abenteuer einschwenkten. Alte Träume unilateraler Größe hatten die nationale Mentalität gefangen genommen. Heimlich wünschte ich diesem historischen Experiment allen Erfolg.
Aber die Zeitgeschichte nimmt auf erworbenen Titel der Bedeutsamkeit keine Rücksicht, Einfluss muss neu verdient werden. Im geopolitischen Durcheinander hat der Wolseley keine metaphorische Zugkraft mehr, selbst die britische Innenpolitik gewährt heute wenig Halt und Richtung. Der Preis für das Verlassen der Europäischen Union ist hoch, die Insel ertrinkt im bürokratischen Papierkram für jeden noch so kleinen Artikel der Aus- und Einfuhr; der Parteienhader zerfrisst das politische Profil.
Endet mein London auf der dunklen Verliererstraße? Stirbt die Mentalität, die mich einst mit ihrer antibürokratischen Einstellung glauben ließ, England sei noch immer der Hort der Freiheit, ihm müsse ich den Zuschlag erteilen, aufgrund einer latenten Wahlverwandtschaft?
Selbst die 2022 verstorbene Queen nannte die Lage ihres Landes prekär: Gegenüber Boris Johnson, der sich wenige Tage vor ihrem Tod die pflichtschuldige Billigung als neuer Regierungschef abholte, gab sie einen historischen Kommentar zum Besten, den Johnson sofort an die große Glocke hängte, obwohl Mitteilungen aus Privatgesprächen mit dem Monarchen als absolutes Tabu gelten. Es waren lakonische Worte der Queen, ein Urteil vom Gipfel der Erfahrung nach 70 Jahren auf dem Thron: „Ich weiß nicht, warum man heute noch Premierminister werden möchte.“
Ich ersetze „Premierminister“ durch „Bundeskanzler“ und erhalte eine treffliche Beleuchtung auch der deutschen Szene. Dabei wollte ich „meinem England“ exklusive Aufmerksamkeit schenken. Die Dinge fangen an, austauschbar zu werden.
Thomas Kielinger war viele Jahre WELT-Korrespondent in London. Er schrieb u.a. Biografien über Elisabeth II. und Winston Churchill.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.