Daniel Thym, 52, gilt als einer der profiliertesten Asylexperten des Landes. Der Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht in Konstanz berät regelmäßig die Bundesregierung. Beim EU-Gipfel „Munich Migration Meeting“ im Oktober dieses Jahres etwa hielt Thym auf Einladung von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) einen Impulsvortrag zur europäischen Migrationspolitik.

WELT: Die EU hat sich auf einen Solidaritätsmechanismus geeinigt, also eine faire Verteilung von Migranten innerhalb Europas. Der Bundesinnenminister hat die Regelung mit Rom und Athen als Erfolg verkauft. Gehen Sie da mit, Herr Thym?

Daniel Thym: Ich finde: Nicht nur bei dem Thema holt die Regierung aus dem bestehenden Regelwerk mit all seinen Defiziten viel heraus. Ganz konkret nutzt Berlin die solidarische Verteilung als Anreiz, damit die südeuropäischen Länder künftig wieder Asylbewerber zurücknehmen, für die sie zuständig sind. Dieses sogenannte Dublin-System war lange dysfunktional. Wenn sich das ab kommenden Juni ändert, wäre dies ein Fortschritt. Und gleichzeitig sagt Deutschland: Wir haben bereits viele Menschen aufgenommen, für die Griechenland oder Italien zuständig sind. Das wird als deutscher Solidaritätsakt verrechnet.

Damit ist ein Gedanke faktisch tot, den unter anderem Angela Merkel nach 2015 forciert hatte: Asylbewerber im großen Stil aufgrund einer Quote mit dem Flugzeug innerhalb Europas zu verteilen.

WELT: Die Asylverfahren sollen zukünftig maßgeblich an der EU-Außengrenze abgearbeitet werden. Ist mit dem neuen Asylaußengrenzverfahren die Gefahr gebannt, dass Migranten unerlaubt von Griechenland oder Italien nach Deutschland weiterreisen?

Thym: Ja und nein. Ich bin optimistisch, dass es besser funktioniert als bisher. Die Länder sprechen und kooperieren wieder intensiv miteinander. Trotzdem muss man erst mal abwarten. Schließlich soll nur eine Teilgruppe, vor allem Leute mit schlechter Bleibeperspektive, in die Einrichtungen an den Außengrenzen kommen. Alle anderen können sich faktisch weiterhin in Europa bewegen, auch wenn das illegal ist. Ein langfristiger Erfolg ist die Einigung mit Italien und Griechenland nur, wenn diese praktisch bei der Rückführung kooperieren.

Allerdings muss Deutschland auch hausgemachte Probleme lösen. Seit Wochen hängt ein Gesetzentwurf im Bundestag, der die Regeln bei einer illegalen Weiterwanderung verschärfen soll. Die SPD will nicht alles mittragen. Doch selbst wenn das Gesetz kommt, müssen die Bundesländer die neuen Regeln auch tatsächlich anwenden. Die bisherige Erfahrung zeigt leider: Deutschland selbst bekommt keine Abschiebungen im großen Stil hin, auch keine schnellen Verfahren. Noch ist also alles Theorie.

WELT: Ein weiteres Instrument sollen „Return Hubs“ außerhalb der EU werden, in die abgelehnte Asylbewerber gebracht werden können. Welche Länder könnten das sein?

Thym: Ich höre immer wieder von Ländern wie Uganda, Tunesien oder Äthiopien als Partner. Aber ich warne davor, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Wir müssten Länder wie etwa Uganda überzeugen, dass sie Menschen übernehmen, die dort noch nie waren und bei denen die Abschiebung ins Herkunftsland scheitert – und dann eventuell auch noch Gefährder und Straftäter. Das wird kein Staat gut finden. Es braucht also gute Argumente, natürlich auch finanzieller Natur. Am Ende zählt auch hier der Praxistest: Gelingt es Innen- und Außenminister, mit einem Land handelseinig zu werden?

WELT: Und trotz all dieser geplanten Reformen sagen Sie: Das reicht nicht für einen wirklichen Wandel der Asylpolitik. Warum?

Thym: Zurückweisungen, Abschiebeflüge oder Korrekturen am Dublin-System – das sind alles wichtige Signale an die Bevölkerung, um das Bedürfnis der Bürger nach mehr Ordnung und Steuerung zu befriedigen. Außerdem kann es Migranten abschrecken. Man erkauft sich damit Zeit. Aber die Grundprobleme der Asylpolitik in Deutschland und Europa sind damit noch nicht beseitigt. Im Wesentlichen sehe ich drei große Baustellen.

WELT: Welche sind das?

Thym: Als Erstes muss der Vollzug von Entscheidungen sich deutlich verbessern. Bisher läuft es oft so: Der Bund macht die Gesetze, etwa zu Abschiebezentren, und die Bundesländer setzen diese halbherzig um. Da geht unheimlich viel Effizienz und Steuerungswirkung verloren. Es wäre sinnvoll, dass der Bund einige Verfahren – angefangen bei Abschiebungen und Dublin-Verfahren – selbst übernimmt. Zweitens muss man dringend auf EU-Ebene die Asylgesetze verschlanken. Und drittens plädiere ich dafür, die Menschenrechte strenger auszulegen. Gerade bei diesem Thema gibt es derzeit eine erfreuliche Dynamik.

WELT: Mehrere Mitgliedstaaten des Europarats monieren, dass die Auslegung der Menschenrechte in den vergangenen 30 Jahren viel zu großzügig ausgefallen sei. Diese Rechtsprechung erschwere weitreichendere Lösungen. Die Staaten bräuchten wieder mehr Autonomie.

Thym: Genau. Es gibt die Idee, die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch eine politische Erklärung in eine andere Richtung zu lenken. Was würde das bringen? Nach der Jahrtausendwende konnten Asylbewerber gegen eine Abschiebung in andere EU-Staaten nicht vor Gericht klagen. Dann änderte der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof seine Rechtsprechung. Seither fällen deutsche Gerichte jedes Jahr Tausende Urteile, die die Abschiebung verzögern oder ganz verbieten. Das konnte man rückgängig machen. Probleme in Griechenland oder Italien müssen durch die Gerichte vor Ort gelöst werden.

Ein zweiter Punkt: Deutschland gibt oft auch Menschen einen Schutzstatus, ein Abschiebeverbot, denen krasse Armut droht. Auch wenn sie nicht verfolgt werden, wenn auch kein Bürgerkrieg herrscht im Heimatland. Hier könnte man auch durch eine Korrektur der Rechtsprechung wieder mehr Spielraum erlangen. Es bliebe dabei, dass Menschen, die verfolgt werden oder die aus einem Bürgerkriegsland kommen, natürlich nicht abgeschoben werden dürfen. Aber wegen krasser Armut etwa in Syrien oder Afghanistan würde es dann keine Abschiebeverbote mehr geben.

WELT: Im nächsten Jahr wird dazu weiterverhandelt ...

Thym: ... und ich wünsche mir, dass die Bundesregierung eine aktive Rolle spielt. Die Erklärung von 27 anderen Ländern vom 10. Dezember unterzeichnete Deutschland nicht. Von der Führungsrolle, die der Innenminister für sich beansprucht, ist bei der Menschenrechtskonvention nichts zu sehen.

WELT: Trotz der Reformen, über die wir gesprochen haben, kamen auch in diesem Jahr mehr als 100.000 neue Asylbewerber – wenn man so will, eine Großstadt. Auch die Zahl der Familiennachzüge bleibt hoch. Haben Sie das Gefühl, die Migrationswende kommt in der breiten Bevölkerung an?

Thym: Die Erstaufnahmeeinrichtungen sind nicht mehr so überfüllt, das spüren die Kommunen. Aber alles, was danach kommt – Integration, Arbeitsmarkt, Schule, auch gesellschaftlicher Zusammenhalt –, da sind die Herausforderungen nach wie vor vorhanden. Hier wird es länger dauern, bis dieser Wandel wirklich ankommt.

WELT: Wie lange braucht Deutschland noch die Binnengrenzkontrollen und Zurückweisungen? Juristisch war dieses Vorgehen immer heikel.

Thym: Ich glaube, alle Fachleute sind überrascht, dass es bisher nur eine Gerichtsentscheidung gegen das Vorgehen gab. Das Verfahren vor dem Berliner Verwaltungsgericht hat die Bundesregierung kurz nach Amtsübernahme verloren, weil sie die Belastungssituation für das Land nicht ausreichend dargelegt hat. Mehr kam dann aber nicht. Ein wichtiger Bestandteil der juristischen Begründung sind die Defizite des europäischen Asylrechts.

Ab nächsten Juni gibt es mit GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystem, d. Red.) ein neues Asylrecht – dieses Argument verfängt dann also nicht mehr. Meine klare Erwartung ist also: Spätestens am 12. Juni kommenden Jahres enden die Grenzkontrollen.

Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit, Migration und berichtet über das Bundesinnenministerium.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.