Es gibt kein Foto von diesem Moment, keinen Fotografen, der die Szene eingefangen hätte. Aber irgendjemand muss es den Journalisten gesteckt haben. Am 1. Mai, bevor Marine Le Pen am Nachmittag die Bühne des überfüllten Kongresszentrums in Narbonne für eine Kundgebung mit mehreren tausend Anhängern betrat, soll sie sich in einer kleinen Kapelle von Perpignan zu Füßen einer Statue der Heiligen Johanna von Orléans niedergekniet und gebetet haben.

Vielleicht hat sie Jeanne d’Arc um Hilfe gebeten, genau wie ihr Vater, damals, bei einem seiner letzten fernsehtauglichen Auftritte vor zehn Jahren. Im knallroten Mäntelchen hatte sich Jean-Marie Le Pen vor der Statue der Heiligen Johanna am Pariser Louvre aufgebaut, seinen Kopf in den Nacken gelegt, zur vergoldeten Jungfrau auf dem Pferderücken sitzend aufgeblickt und gebrüllt: „Jeanne, rette uns!“

Der alte Le Pen hatte damals Ärger mit der Justiz. Da lag es nahe, die Nationalheilige um Hilfe zu bitten, denn er hatte es im Front National (FN) zur Tradition gemacht, am 1. Mai einen Blumenkranz am Fuß der Statue abzulegen und die Heldin zu würdigen, die Frankreich gegen fremde Mächte verteidigt hatte. Der FN hatte sich ein Symbol erfolgreich einverleibt.

Nachdem Marine Le Pen den Vater aus der Partei ausgeschlossen hatte, war der 1. Mai ein Tag, an dem man sich aus dem Weg zu gehen versuchte. Die Tochter legte die Blumen ab, nachdem der Vater seinen Auftritt hatte. Der FN wurde umbenannt, mit der Tradition bald gebrochen.

Zehn Jahre später braucht Le Pen wieder Hilfe von der Vorsehung, Rettung von oben. Auf dem Rednerpult, an dem sich die Stars des Rassemblement National (RN) an diesem Donnerstagnachmittag im südfranzösischen Narbonne ablösen, steht der Schriftzug „Bis zum Sieg!“ Es ist der neue Slogan des RN.

Offiziell hat Le Pen noch nicht aufgegeben

Gemeint ist der Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen 2027. Er schien noch nie so greifbar nah wie in den ersten Monaten des Jahres. Zum ersten Mal hatten Meinungsumfragen Le Pen auch bei der zweiten Wahlrunde, der alles entscheidenden Stichwahl, als Siegerin gesehen. Egal, ob ihr Gegner Gabriel Attal oder Édouard Philippe heißen würde, beides ehemalige Premierminister von Emmanuel Macron, den diese gerne beerben würden. Der Rechtspopulistin wurden 51 bis 53 Prozent vorausgesagt. Das wäre ein knapper Sieg, aber es bliebe ein Sieg.

Vor einem Monat aber fiel das Urteil, das die politische Landschaft Frankreichs mit der Gewalt eines Erdbebens umpflügte. Es war der Tag, an dem Le Pens Hoffnungen der letzten Jahre zerplatzten. Unwählbarkeit. Das Verbot, innerhalb der nächsten fünf Jahre für ein politisches Amt kandidieren zu dürfen. Aus der Traum der Präsidentschaft. Vorbei die Hoffnung, die erste Frau an der Spitze Frankreichs zu sein, die erste rechtsidentitäre Präsidentin.

Offiziell hat Le Pen noch nicht aufgeben. Sie weigert sich, das Szenario bis zum Ende durchzuspielen und einen alternativen Schlachtplan vorzulegen. Noch hat sie einen winzigen Hoffnungsschimmer. Sie hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Ende März war sie wegen der Veruntreuung von mehr als vier Millionen Euro zu zwei Jahren Haft mit elektronischer Fußfessel, einer Geldstrafe von 100.000 Euro und fünf Jahren Entzug des passiven Wahlrechts mit sofortiger Vollstreckung verurteilt worden.

Weil dieses Urteil fraglos ein Politikum ist, muss Le Pen nicht jahrelang auf ihr Berufungsverfahren warten. Es ist ihr für Sommer 2026 versprochen worden. Gerade noch rechtzeitig, zehn Monate vor den Wahlen. Le Pen pocht auf ihre Unschuld. Die Beweislage ist aber so eindeutig, dass die Chancen auf einen Freispruch gering scheinen. Würde das Gericht allerdings den Verlust des passiven Wahlrechts zurücknehmen oder die sofortige Wirkung aussetzen, könnte sie bei den Wahlen antreten.

In der Partei herrscht seither ein Grabenkrieg. Auch die Anhänger sind zerrissen. Wäre es nicht besser, Le Pen würde den Stab schon jetzt ihrem Ziehsohn Jordan Bardella übergeben? Wäre es nicht im Sinne der Partei und eines Sieges, den erst 29-Jährigen so früh wie möglich auf diesen Wahlkampf vorzubereiten?

Bardella hatte eine knappe Woche vor der Kundgebung in Narbonne mit einem Interview in der Zeitung „Le Parisien“ Aufsehen ausgelöst, als er sagte, dass er selbstverständlich der Ersatzmann sei, der „Plan B wie Bardella“, wie es seine Unterstützer nennen. „Wenn sie verhindert wird, werde ich Marine Le Pens Kandidat sein“, titelte das Blatt. So klar hatte das bislang niemand gesagt. Auch er nicht. Im glatten Gesicht Bardellas sehen inzwischen viele das Profil eines Brutus, eines Verräters.

Bardella, das frische Gesicht des Rechtspopulismus

Es ging in Narbonne deshalb auch darum, die Temperatur zu fühlen. Jede Geste wurde interpretiert, jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, alle Anhänger wurden befragt. Die jungen Leute im RN sehen kein Problem darin, Bardella als Kandidaten aufzustellen. Die älteren Anhänger sagen hinter vorgehaltener Hand, dass es vielleicht besser wäre für die Partei, den Namen Le Pen ein für alle Mal hinter sich zu lassen.

In Umfragen schneiden beide gleich ab. Doch seit der Urteilsverkündung hat Bardella zugelegt. Inzwischen hat der RN-Chef sogar den ersten Platz des Beliebtheitsbarometers des Meinungsforschungsinstituts Odoxa erobert, das fünf Jahre lang vom liberalen Politiker und Kandidat für 2027, Edouard Philippe angeführt wurde, seines Zeichens ehemaliger Premierminister unter Präsident Macron.

Bardella ist das frische Gesicht des Rechtspopulismus, jung, fotogen, ein Star auf TikTok und vor allem ein Mann ohne Altlasten. Am Donnerstag hat er gezeigt, dass er die patriotischen Gefühle der RN-Wähler bedienen kann. „Wir sind nicht irgendwer, wir sind nicht irgendein Volk, wir sind das Volk Frankreichs“, rief Bardella. Ein Volk, das Kathedralen baue, Revolutionen beginne, Reiche stürze und Freiheiten erkämpfe.

Er verglich seinen „unerschütterlichen Glauben an die Zukunft“ mit Jeanne d‘Arcs „unverwüstlichem Glauben an Frankreich“. Der Ton war so pathetisch, dass es auch die letzte Rede vor dem Urnengang 2027 hätte sein können. „Wenn wir unserem Volk seinen Stolz zurückgeben wollen, unserer französischen Jugend eine Zukunft und unserem Land seine Größe“, rief Bardella, „dann ist es Zeit, aufzustehen, Zeit, sich zu erheben“. Er klang wie ein Hoffnungsträger, nicht unähnlich dem Macron von 2016.

Le Pen hingegen, die vor ihrem Zögling redete und deutlich kürzer, trat als Opfer auf. Statt patriotische Gefühle und die Furcht vor dem Identitätsverlust zu bedienen, sprach sie soziale Abstiegsängste an. Aber sie stimmte auch das populistische Lied davon an, dass man dem RN die Wahlen gestohlen habe. „Sie haben Euch bei den Parlamentswahlen von 2024 die Wahl gestohlen. Heute wollen sie Euch die Wahl von 2027 stehlen“, rief sie.

Anspielungen auf das fatale Urteil vom März und die Wahlbündnisse, aufgrund derer ein Sieg des RN bei den Neuwahlen im vergangenen Sommer verhindert worden war. Ihre Rede war ungewöhnlich persönlich, in Teilen melancholisch, als habe sie schon Abschied genommen. „Manchmal empfinde ich die Last als schwer“, gestand sie. Ein Jahr lang muss sie sie noch tragen. Zeit genug, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie den Weg für ihren Ziehsohn wahrscheinlich wird freimachen müssen.

Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.

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