Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Bereitschaft zu einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Rahmen möglicher Waffenruhe-Verhandlungen in der Türkei unterstrichen. „Wir werden alles tun, um sicherzustellen, dass dieses Treffen stattfindet“, sagte Selenskyj am Dienstag in Kiew. Er werde zudem „alles tun“, um eine Waffenruhe zu vereinbaren. Vor dem mit Spannung erwarteten möglichen Treffen erklärt Andrij Jermak, Leiter des Präsidialamts der Ukraine, der in den Verhandlungen eine führende Rolle spielt, was er von den kommenden, potenziell entscheidenden Tagen erwartet.
WELT: Herr Jermak, es herrscht große Verwirrung. Wer verhandelt am Donnerstag in der Türkei mit wem?
Andrij Jermak: Es ist ganz einfach. Sie können den Tweet von Präsident Selenskyj lesen, in dem er sagt, dass er zu allen Verhandlungsformaten bereit ist. Wenn Russland direkte Verhandlungen fordert, ist er bereit, in die Türkei zu reisen. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass alle Verhandlungen mit einer vollständigen und bedingungslosen Waffenruhe beginnen müssen. Friedenslösungen und Friedensabkommen sind unmöglich, wenn man unter Beschuss von Drohnen und Raketen steht.
WELT: Aber eine Waffenruhe ist nicht zustande gekommen.
Jermak: Wir haben gesehen, dass es in den vergangenen 24 Stunden etwas ruhiger geworden ist. Aber gleichzeitig wollen wir den Russen keine Chance auf ein Täuschungsmanöver geben. Deshalb hat Präsident Selenskyj als starker Führer einer starken Nation gesagt, dass er bereit ist, in die Türkei zu reisen. Während wir hier reden, haben wir noch keine Bestätigung, dass Putin tatsächlich kommen wird. Doch ich bin mir sicher, dass Präsident Selenskyj in der Türkei sein wird.
WELT: Haben Sie mit Donald Trump gesprochen? Der US-Präsident hat gesagt, dass er vielleicht auch in die Türkei reisen wird. Wissen Sie etwas darüber?
Jermak: Ich weiß, dass Präsident Trump derzeit sehr beschäftigt ist, weil er sehr wichtige Besuche in Ländern des Nahen Ostens absolviert. Aber er hat vor aller Welt deutlich gemacht, dass er davon ausgeht, dass sich Präsident Selenskyj und Präsident Putin in der Türkei treffen werden – und er selbst ernsthaft darüber nachdenkt, ebenfalls anzureisen. Bisher haben wir keine Bestätigung, dass Präsident Trump kommen wird. Ich halte seine klaren Aussagen jedoch für wichtig. Es ist sein letzter Aufruf für alle, die diesen Krieg beenden und ernsthafte Verhandlungen wollen.
WELT: Wir sehen ein Hin und Her im Kreml. Einige sagen, dass nur der russische Außenminister Lawrow kommt. Glauben Sie, dass Trump die Macht hat, Putin davon zu überzeugen, nach Istanbul zu reisen?
Jermak: Ich denke, dass die Vereinigten Staaten und ihr starker Anführer diese Macht haben. Echter Druck wird Putin und Russland irgendwann dazu bringen, ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen und diesen Krieg zu beenden. Wir schätzen es sehr, dass Präsident Trump dieser Auffassung ist und nicht aufhört, viele Dinge zu tun, um diesen Krieg wirklich zu beenden. Wenn Putin nicht in die Türkei kommt, wären sofort neue Sanktionen und neuer Druck notwendig. Wir wissen, dass Russland nur die Sprache der Stärke versteht.
WELT: Wie kam es zu diesem Sinneswandel bei Ihnen und Ihrem Präsidenten? Im Jahr 2022 haben Sie ein Dekret unterzeichnet, in dem es heißt, dass es keine direkten Verhandlungen mit Russland geben wird. Vor einem Jahr hat Selenskyj mir im Interview gesagt, er könne sich nicht mit einem Mörder an einen Tisch setzen.
Jermak: Die Verfassung der Ukraine ermächtigt den Präsidenten, mit jedem zu verhandeln, solange er die Interessen unseres Landes vertritt. Das bedeutet, dass es für Präsident Selenskyj rechtlich gesehen keine Einschränkungen gibt, direkt mit Putin zu verhandeln. Aber er hat das nie gewollt. Putin ist derjenige, der den Befehl gegeben hat und weiterhin daran festhält, unser Volk zu töten, Kinder zu töten und diesen unprovozierten schrecklichen Krieg zu führen. Aber mein Präsident hat gesagt, dass er bereit ist, in jeder Form zu verhandeln. Auch mit Putin, wenn das dazu beiträgt, diesen Krieg zu beenden und einen gerechten und dauerhaften Frieden zu erreichen.
WELT: Sie werden der Delegation nach Istanbul angehören. Wie ist es für Sie persönlich, in dieser Phase des Krieges mit den Russen an einen Tisch zu sitzen?
Jermak: Das ist natürlich kein Vergnügen – aber ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen. Als der israelische Geheimdienst Mossad die Operation zur Festnahme Adolf Eichmanns durchführte, wählte er speziell Menschen aus, die jemanden im Holocaust verloren hatten. Ich habe viel darüber gelesen, insbesondere ein Buch, das vom Leiter dieses Kommandos, Peter Zvi Malkin, geschrieben wurde. Darin beschreibt er seine Gefühle. Im Einsatz denkt er an sein Land, er denkt an Gerechtigkeit, er denkt darüber nach, wie man Frieden erreichen kann, nicht an seine persönlichen Emotionen. Es ist unmöglich, keine Gefühle zu haben. Unser ganzes Volk ist seit mehr als drei Jahren im Krieg. Die Menschen in Butscha, in Erpin, in Jahidne und anderen Städten. Menschen, die an der Front waren, die die Toten gesehen haben, die gesehen haben, wie die Russen Kinder in Krywyj Rih, in Sumy und anderen Orten getötet haben. Es ist unmöglich, diese Gefühle nicht zu haben. Aber wir vertreten unser Land, wir vertreten unser großartiges Volk. Wir wollen diesen Krieg beenden, und es ist unsere Pflicht, zu sprechen, zu verhandeln, die Interessen der Ukraine zu schützen und zu verteidigen.
WELT: Was würden Sie tun, wenn Putin nicht kommt? Würden Sie mit Außenminister Lawrow oder anderen Mitgliedern der russischen Delegation verhandeln?
Jermak: Putin hat gesagt, dass er zu direkten Verhandlungen bereit ist. Mein Präsident hat geantwortet, dass er bereit ist, zu kommen. Wie würde es nun aussehen, wenn Putin nicht käme? Wie würde man das erklären?
WELT: Das Argument des Kremls lautet, dass bei Friedensverhandlungen normalerweise zuerst die Diplomaten und Minister zusammenkommen und sich der Präsident erst danach äußert.
Jermak: Ich habe nur eine Antwort darauf. Wenn Putin nicht kommt, will er diesen Krieg nicht beenden und ist nicht bereit für Verhandlungen.
WELT: Nehmen wir an, Putin kommt. Was sind Sie bereit, auf den Tisch zu legen?
Jermak: Mein Präsident und unser gesamtes Team vertreten sehr klare Position. Der erste Schritt ist die Erreichung eines vollständigen und bedingungslosen Waffenstillstands. Es ist unmöglich, über irgendetwas zu reden und zu diskutieren, während man mit Drohnen und Raketen angegriffen wird. Zweitens muss verhandelt werden, wie dieser Waffenstillstand funktionieren soll. Wer wird ihn überwachen? Was passiert, wenn jemand dagegen verstößt? Denn wir haben leider keine sehr guten Erfahrungen gemacht. Erst dann kann man sich über Formate und den Rahmen der Verhandlungen einigen.
WELT: Sind Sie bereit, Gebiete aufzugeben?
Jermak: Das sind Fragen für die Verhandlungen. Aber wenn Sie mich so direkt fragen, antworte ich Ihnen direkt, dass wir niemals die Besetzung von Gebieten durch Russland anerkannt haben. Das ist auch gemäß unserer Verfassung unmöglich. Vor uns liegt ein langer Weg. Was es für die Ukrainer erfordert, dass dieser Krieg in jeder Hinsicht vorbei und wirklich beendet ist, finden sie in den zehn Punkten des Friedensplanes, den Präsident Selenskyj vorgelegt hat.
WELT: Präsident Trump fordert insbesondere eines: Er will Wahlen in der Ukraine. Besteht eine Möglichkeit für baldige Wahlen?
Jermak: Bei allem Respekt: Es ist nicht notwendig, dass jemand Wahlen von der Ukraine fordert. Wir sind ein demokratisches Land. Die Ukraine wird Wahlen abhalten, sobald dies gesetzlich möglich ist und alle unsere Bürger die Möglichkeit haben, ihre Stimme abzugeben. So ist unsere Gesellschaft, unsere Mentalität. Demokratie ist unsere Stärke, deshalb sind wir so stark und so mutig.
WELT: Bundeskanzler Friedrich Merz war gerade mit anderen europäischen Staats- und Regierungschefs in Kiew und hat ein Ultimatum an Russland gestellt. Sollte es bis Anfang dieser Woche keine Waffenruhe geben, werde Europa harte Sanktionen gegen Russland verhängen. Was kann Deutschland Ihrer Meinung nach tun und erwarten Sie, dass Berlin nun Taurus an die Ukraine liefert?
Jermak: Wir schätzen die Haltung unserer europäischen Freunde sehr, insbesondere die des deutschen Bundeskanzlers. Das war eine absolut einheitliche Haltung Europas. Die Sanktionen müssen schmerzhaft und wirksam sein.
WELT: Aber in den vergangenen Jahren waren sie eben nicht wirksam.
Jermak: Es stimmt, dass nicht alle Sanktionen von Anfang an wirklich wirksam und schmerzhaft waren. Deshalb analysieren wir weiter die Lage. Aber wir können sagen, dass das System der Sanktionen nach drei Jahren nun Schritt für Schritt wirklich funktioniert. Die russische Wirtschaft befindet sich in einer schlechten Lage.
WELT: Über welche Sanktionen sprechen wir?
Jermak: Gegen den Handel mit Öl und Gas und gegen das Finanzsystem. Die USA müssen diese Maßnahmen koordinieren.
WELT: Sollte das passieren, wenn Putin nicht in die Türkei kommt?
Jermak: Man muss meiner Meinung nach sofort sehr hart durchgreifen und weiter starken Druck auf Russland ausüben. Nur die Sprache der Stärke bringt Russland an den Verhandlungstisch.
WELT: Glauben Sie, dass Bundeskanzler Friedrich Merz das Waffensystem Taurus an die Ukraine liefern wird?
Jermak: Ich bin optimistisch, ja.
Paul Ronzheimer ist stellvertretender BILD-Chefredakteur und Mitglied des Axel Springer Global Reporters Network. Gekürzt und redaktionell bearbeitet von Philip Volkmann-Schluck.
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