Nicholas Burns war jahrzehntelang im amerikanischen Außenministerium und diplomatischen Dienst tätig, unter anderem als US-Botschafter bei der Nato. Zuletzt war er Botschafter in China, von 2022 bis Januar 2025. Der 69-Jährige kennt die Volksrepublik seit Jahrzehnten, seine erste Reise dorthin unternahm er 1988. Damals hatte China ein Bruttoinlandsprodukt von umgerechnet 312 Milliarden Dollar, heute sind es 19 Billionen.
WELT: Welches Problem in den Beziehungen zwischen den USA und China hat Ihnen während Ihrer Zeit in Peking die größten Sorgen bereitet?
Nicholas Burns: Die Chinesen davon zu überzeugen, dass es in unser beider Interesse liegt, dass unsere hochrangigen Militärs miteinander sprechen. Mein Albtraumszenario als Botschafter war nicht ein absichtlicher Konflikt, sondern ein Unfall. Unsere beiden Marinen operieren in unmittelbarer Nähe der von China beanspruchten Spratly-, Paracel- und Senkaku-Inseln sowie in der Taiwanstraße. Im Falle eines Unfalls oder einer Kollision in der Luft oder auf See ist es wichtig, dass hochrangige Militärs beider Seiten eingreifen können, um die Lage zu beruhigen und die Parteien zu trennen. Während meiner Zeit als Botschafter hat die Volksbefreiungsarmee solche Kontakte aber lange Zeit abgelehnt.
WELT: Betrifft das auch die politische Ebene?
Burns: Nach dem Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan im August 2022 hat China die diplomatischen Kontakte zwischen unseren Regierungen auf hoher Ebene praktisch eingestellt. Dies taten sie erneut, nachdem im Jahr 2023 dieser seltsame Ballon über das Territorium der Vereinigten Staaten getrieben war. Es gab also Momente, in denen ich daran zweifelte, ob wir eine Krise tatsächlich bewältigen könnten. Angesichts der spürbaren Konkurrenz zwischen unseren Ländern müssen wir in der Lage sein, Konflikte in den Griff zu bekommen und die Wahrscheinlichkeit einer größeren Konfrontation zu verringern.
WELT: Wie würden Sie den Stand der Beziehungen zwischen den USA und China seit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus charakterisieren?
Burns: Es gibt viele Ähnlichkeiten. Als ich abreiste, gab es viele Themen, bei denen wir uneins waren, und das gilt sicherlich auch für Präsident Trump. Ich habe ein gewisses Verständnis für die Lage der Trump-Regierung, denn einerseits ist China unser stärkster Gegner weltweit. Andererseits gibt es bestimmte Themen, bei denen wir mit China zusammenarbeiten müssen. Eine der schwierigsten Aufgaben war für mich im Alltag, einen Ausgleich zu finden zwischen unserem stärksten Rivalen in bestimmten Bereichen – wie beim Klimawandel oder beim Thema Fentanyl – und einem Partner, mit dem wir zusammenarbeiten müssen. Es gab Tage, an denen man sich mit Fragen der Kooperation befassen musste, und viele andere Tage, an denen der Schwerpunkt auf dem Wettbewerb lag. Ich denke, das stellt auch die Trump-Regierung gerade fest.
WELT: Ein wesentlicher Bestandteil von Joe Bidens China-Strategie war die Stärkung der Beziehungen zu Verbündeten und Partnern, um dem wachsenden globalen Einfluss Pekings Einhalt zu gebieten. Trumps Ansatz gegenüber China – und dem Rest der Welt – basiert auf Zöllen und Handel. Wie effektiv ist das?
Burns: Der Start war nicht gut. Ich denke, der grundlegende Fehler war, dass wir, als wir Zölle gegen China verhängten, gleichzeitig auch hohe Zölle gegen Südkorea, Japan, die Europäische Union, Kanada und Mexiko verhängten. All diese Länder stehen uns in den großen Fragen zur Seite, die uns von China trennen. Sie haben die gleichen Wirtschafts- und Handelsprobleme mit China. Hätten wir China als den größten Störer des globalen Handels klar benannt – was es in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos war – und eine Koalition aus EU, Japan und den USA gebildet, die zusammen 60 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen, hätten wir in diesen Verhandlungen eine deutlich bessere Position gehabt. Aber durch die Einführung wirklich hoher Zölle für diese Länder haben wir sie von unserer Seite des Verhandlungstisches verdrängt. Das war ein großer Fehler, den die Regierung meiner Meinung nach jetzt wiedergutmachen will. Angesichts der Konfrontation mit China in der Taiwanstraße, des militärischen Wettrüstens im Indopazifik, des Handelsstreits und der Unterstützung Russlands durch China im Ukraine-Konflikt ist es unerlässlich, dass wir Japan, Südkorea, die EU, die Nato-Staaten, Australien und Indien an unserer Seite haben. Mit einer solchen, auf Bündnisse fokussierten Mentalität können wir China übertrumpfen und abschrecken.
WELT: Peking argumentiert, dass die Trump-Regierung einen unfairen Handelskonflikt mit China begonnen hat. Wie sehen Sie das?
Burns: Ich will mal etwas verständnisvoller auf Präsident Trumps Dilemma blicken. Seit Wochen behaupten die Chinesen täglich, dass die Vereinigten Staaten unfair sind, dass wir Tyrannen sind und den globalen Handel stören. Tatsächlich sind sie jedoch das größte Problem für diesen Handel. Sie stehlen geistiges Eigentum von amerikanischen und anderen Unternehmen und erzwingen Technologietransfer. Sie verkaufen Elektrofahrzeuge, Lithiumbatterien und Solarzellen unterhalb der Produktionskosten und stören damit die globalen Märkte. Zudem versuchen sie, die Fertigungsindustrie in Ländern wie den USA und Europa zu zerstören. Ich halte deshalb Zölle gegenüber China für notwendig. Die Frage ist nur, in welcher Höhe. Bedenken Sie, dass Präsident Biden 100 Prozent Zoll auf chinesische Elektrofahrzeuge, 50 Prozent auf Halbleiter und 25 Prozent auf Lithiumbatterien verhängt hatte. Ich halte 145 Prozent Zölle auf chinesische Importe für falsch. Zölle gegen unsere Verbündeten zu verhängen, ist ein Fehler. Aber ich verstehe, dass die Vereinigten Staaten gegenüber China eine harte Strategie verfolgen müssen.
WELT: Die Trump-Regierung geht offenbar davon aus, dass sie Peking durch die Verhängung von Zöllen ihren Willen aufzwingen kann, und China in diesem Handelskrieg mehr zu verlieren hat als die USA. Wie realistisch ist das?
Burns: Ich halte das für keine realistische Einschätzung. Die chinesische Führung sieht sich selbst als gleichberechtigten Partner der USA in wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Hinsicht. Die Kommunistische Partei hat Präsident Xi Jinping zu einer alles überragenden Figur gemacht. Deshalb durfte es auf keinen Fall passieren, dass Xi in einem Handelsstreit mit den USA gedemütigt oder eingeschüchtert wird oder als Verlierer dasteht. Es war völlig vorhersehbar, dass China, wenn wir Zölle von 145 Prozent auf chinesische Produkte erheben, im Wesentlichen gleichziehen würde. Was es mit Zöllen von 125 Prozent dann auch getan hat. In einem solchen Zollkrieg wird es also keine klaren Gewinner geben. Wenn es jedoch zu einer Einigung kommt – und ich glaube, dass es letztendlich ein Handelsabkommen geben wird, weil Eigeninteresse und Logik dies gebieten – dann müssen beide Seiten davon profitieren. China hat keinen Minderwertigkeitskomplex mehr gegenüber den USA, wie es meiner Meinung nach früher der Fall war. Es sieht sich selbst als gleichberechtigten Partner. Die Chinesen sind entschlossen, in dieser Angelegenheit nicht als Verlierer dazustehen.
WELT: Wie sehen Sie längerfristig das Verhältnis zwischen Peking und Washington?
Burns: China strebt Stabilität in seinen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten an. Seine Wirtschaft befindet sich zwar nicht in einer katastrophalen Lage, läuft aber nicht gut. Man ist besorgt über das niedrige BIP-Wachstum und über den Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen um 32 Prozent im letzten Jahr. Ich denke, sie wollen ihren Marktanteil in den USA halten und ihre Möglichkeiten zum Export von Industriegütern wahren. Ich glaube nicht, dass sich daran in den nächsten zehn Jahren viel ändern wird – egal, ob Republikaner oder Demokraten im Weißen Haus sitzen. Wir sind die beiden größten Volkswirtschaften und haben die beiden stärksten Militärmächte. Wir sind die einzigen beiden Länder mit wirklich globaler Reichweite, haben jedoch völlig unterschiedliche Philosophien in Bezug auf menschliche Freiheit und Menschenrechte. Zudem sind wir direkte Konkurrenten in den Bereichen künstliche Intelligenz, Quantencomputing, Biotechnologie, Cyberspace und Weltraum. Gleichzeitig wollten wir fähig bleiben, mit China zusammenzuarbeiten, um die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts zu verringern. Wir sind nämlich zu dem Schluss gekommen, dass wir mit China in Frieden leben müssen. Krieg wäre eine Katastrophe.
WELT: Was ist Ihrer Meinung nach das größte Missverständnis der USA gegenüber China?
Burns: In beiden politischen Lagern ist die gängige Meinung, dass China nicht innovationsfähig sei. Dass es lediglich imitiert und geistiges Eigentum sowie Designs für kommerzielle Produkte aus den USA stiehlt. Aber diese Zeiten sind vorbei. Was die amerikanische Bevölkerung – unsere Regierung und beide Parteien – verstehen muss, ist, dass China ein würdiger Konkurrent ist. Die wissenschaftlichen und technologischen Talente des Landes sind beeindruckend. In einigen Bereichen übertrifft das Niveau der Wissenschaft, der Patente und der Forschung das unsere oder ist uns ebenbürtig. In kritischen Bereichen der technologischen Transformation investiert der Staat enorme Summen in nationale Vorzeigeunternehmen wie Huawei, die weltweit erfolgreich sein sollen. Sie handeln konsequent und planen über Jahrzehnte hinweg. Das ist ihr Vorteil. Im Januar kündigten die Chinesen Investitionen in Höhe von 15 Milliarden Dollar allein in Quantencomputer an. Sie wollen uns dort zuvorkommen. Das wird in der amerikanischen Gesellschaft und sogar in unseren Medien nicht richtig verstanden.
WELT: Die Trump-Regierung hat einige der wichtigsten Instrumente der Soft Power abgeschafft, die dem wachsenden globalen Einfluss Chinas entgegenwirken sollten: die Entwicklungshilfeagentur USAID sowie die Sender Radio Free Asia, Radio Free Europe und Voice of America. Ist das ein Problem?
Burns: Die Auflösung von USAID war ein katastrophaler Fehler. Das war unsere Behörde, die dem Rest der Welt gesagt hat: „Wir helfen euch bei Impfstoffen. Wir helfen euch bei HIV. Wir helfen euch bei Polio.“ Elon Musk und Co. haben USAID innerhalb einer Woche zerschlagen und 8500 Menschen entlassen. Das hat China geholfen. Am nächsten Tag starteten die Chinesen eine massive Propagandaoffensive weltweit und verkündeten: „Die Vereinigten Staaten interessieren sich nicht mehr für euch.“
WELT: Die US-Regierung will aggressiv die Visa chinesischer Studenten in den USA widerrufen und die Überprüfung chinesischer Staatsbürger, die in „kritischen Bereichen“ in den USA studieren wollen, verschärfen. Wie strategisch ist dieser Schritt?
Burns: Wir haben eine schwierige und konfliktreiche Konkurrenzbeziehung zur chinesischen Regierung. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir eine ebensolche Beziehung zum chinesischen Volk haben sollten. Wir werden in den nächsten zehn Jahren oder länger mit der Regierung konkurrieren – aber wir sollten die Türen für den Tourismus, für Geschäftsreisende sowie für chinesische und amerikanische Studenten offenhalten. Denn man darf die Beziehung nicht in eine Sackgasse manövrieren, in der Chinesen kein Englisch sprechen und noch nie in Missouri oder Montana waren. Natürlich wollen wir auch, dass junge Amerikaner im Highschool- und College-Alter Mandarin lernen, damit sie, wenn sie in den nächsten Jahrzehnten unsere Führungskräfte werden, ein wirklich gutes Gespür für die andere große Supermacht entwickeln. Die meisten chinesischen Studierenden in den USA halten sich an unsere Gesetze, gewinnen einen Eindruck davon, wie eine demokratische Gesellschaft funktioniert, und lernen, unabhängig zu denken. Ich weiß nicht, was Außenminister Marco Rubio damit meint, dass wir die Visa chinesischer Studenten aggressiv widerrufen. Werden sie die Visa aller Mitglieder der Kommunistischen Partei aufheben? Die Kommunistische Partei hat 99 Millionen Mitglieder. Sollen alle ferngehalten werden? Ich habe Vertrauen in unsere Demokratie und bin überzeugt, dass die Chinesen von unserem Land beeindruckt sein werden. Und dass viele von ihnen bleiben und für Google, Amazon oder ChatGPT arbeiten wollen. Dass sie unser Land stärker machen und einige von ihnen Techfirmen gründen werden, die Amerikaner beschäftigen werden. Ich halte es für einen großen Fehler, die Türen zu schließen. Natürlich müssen wir die schlechten Akteure aussortieren, aber das tun wir bereits.
Dieses Interview erschien zuerst in der WELT-Partnerpublikation „Politico“. Redaktionell bearbeitet und gekürzt von Jens Wiegmann.
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