Die beiden 300 Meter langen chinesischen Flugzeugträger Liaoning und Shandong sind imposante Kriegsschiffe. Und ihre Route in diesen Tagen ist hochbrisant. Denn sie wurden innerhalb der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Japans gesichtet, wie das Verteidigungsministerium in Tokio am Dienstag erklärte – eine offensichtliche Provokation. Gleichzeitig sind der finnische Präsident Alexander Stubb und der litauische Präsident Gitanas Nauseda in der japanischen Hauptstadt, Vertreter aus Ländern, die ihr Militär gerade deutlich ausbauen.

Dazu passen die Aussagen des japanischen Verteidigungsministers General Nakatani kürzlich auf einer Konferenz vor einem internationalen Publikum in Singapur. „Wir werden die Aushöhlung der regelbasierten Ordnung nicht zulassen – wir werden sie wiederherstellen“, erklärte er. Seine Botschaft ist eindeutig: Japan gibt sich nicht länger damit zufrieden, die passive Rolle des Pazifisten in der globalen Sicherheitsarchitektur zu spielen. In Tokio bereiten sich militärische Planer auf Szenarien vor, die früher undenkbar waren.

In seinem neuen Buch „Evaluating Japan‘s New Grand Strategy“ vertritt Robert Ward, Inhaber des Japan-Lehrstuhls und Direktor für Geoökonomie am Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS), die Auffassung, dass Japan den tiefgreifendsten sicherheitspolitischen Wandel seit 1945 erlebt. Das Land versteckt sich nicht mehr hinter seiner pazifistischen Verfassung, sondern wird immer selbstbewusster – militärisch, diplomatisch und strategisch. WELT traf Ward beim Shangri-La-Dialog in Singapur, um mit ihm darüber zu sprechen, warum Tokio aufrüstet, welche Rolle China und Taiwan dabei spielen und warum die Nato dies zur Kenntnis nehmen sollte.

WELT: Herr Ward, Japan galt lange Zeit als pazifistisch. Was hat sich geändert?

Robert Ward: Japans neue Nationale Sicherheitsstrategie von 2022 markiert einen historischen Bruch mit der sogenannten Yoshida-Doktrin, die dem Wirtschaftswachstum unter dem Sicherheitsschirm der USA Priorität einräumte. Diese Strategie funktionierte während des Kalten Krieges. Doch jetzt wird Japan von allen Seiten bedroht: von Russland im Norden, Nordkorea in der Mitte und China im Süden. Man könnte sagen, dass kein G-7-Land unter so starkem strategischem Druck steht wie Japan heute.

WELT: Kommt die Gefahr hauptsächlich aus China und wegen seines Anspruchs auf Taiwan?

Ward: Taiwan spielt eine Schlüsselrolle. Im äußersten Südwesten Japans, auf der Insel Yonaguni, kann man Taiwan an einem klaren Tag sehen. Es ist nur 100 Kilometer von dort entfernt. Die strategische Verlagerung des Schwerpunkts von Tokio auf diese Region ist beabsichtigt; es geht darum, chinesische Aggressionen abzuschrecken. Japans Führung ist sich bewusst, dass Japan, wenn China Taiwan angreift, mit hineingezogen wird, ob es das will oder nicht.

WELT: Deutschland wird oft dafür kritisiert, zu langsam auf globale Bedrohungen zu reagieren. Ist Japan da schneller und tut es genug?

Ward: Japan reagiert für japanische Verhältnisse erstaunlich schnell. Das Land erhöht die Verteidigungsausgaben, kauft Raketen und verstärkt die Beziehungen zu den USA und gleich gesinnten Partnern. Aber ob es genug tut, ist eine andere Frage. Strategisch gesehen versteht Japan China sehr gut, was wichtig ist, um es wirksam abschrecken zu können. Aber es gibt in Japan eine Lücke in dem, was ich als „strategische Kultur“ bezeichnen würde. Anders als in den USA oder sogar in Deutschland gibt es in Japan keine Kriegsstudiengänge. Militärische Themen sind in der akademischen Welt und im öffentlichen Diskurs oft ein Tabu.

WELT: Warum ist diese Lücke problematisch?

Ward: Weil Japan eine Demokratie ist. Sollte das Land jemals eine US-Operation zur Verteidigung Taiwans unterstützen müssen, muss diese Entscheidung durch das Parlament gehen. Und die Öffentlichkeit hat immer noch kein umfassendes Verständnis davon, was militärisches Engagement wirklich bedeutet. Ohne eine stärkere strategische Kultur ist es schwierig, langfristig Unterstützung für die Art von aktiver Verteidigungspolitik aufzubauen, die Japan jetzt verfolgt.

WELT: Entfernt sich Japan also tatsächlich von seiner pazifistischen Verfassung?

Ward: Ich würde sagen, dass Japan nie völlig pazifistisch war – antimilitaristisch trifft es besser. Die Regierung hat die Verfassung immer pragmatisch interpretiert. Premierminister Shinzo Abe tat dies 2015, um Änderungen an den Richtlinien für die japanisch-amerikanische Verteidigungszusammenarbeit durchzusetzen – die Ersten seit 1997. Anstatt also die Verfassung formell zu ändern, was politisch schwierig ist, interpretiert Tokio sie immer wieder neu. Auf diese Weise rechtfertigt Japan nun die kollektive Selbstverteidigung und den Kauf von Raketen.

WELT: Dennoch vermeidet es Japan, China offen als Bedrohung zu bezeichnen. Warum die Zurückhaltung?

Ward: Es ist ein Balanceakt. Wirtschaftlich sind Japan und China eng miteinander verflochten. Premierminister Abe sagte einmal, die beiden Länder seien „unzertrennlich“. Während Japan also rote Linien ziehen und die auf Regeln basierende Ordnung aufrechterhalten will, möchte es Peking dabei nicht unnötig provozieren. Deshalb spricht Verteidigungsminister Nakatani in seinen Reden von „jedem Land“, das den Frieden bedroht, obwohl jeder weiß, dass er damit China meint.

WELT: Und wie passt Südkorea in all das hinein? Die Beziehungen zwischen Tokio und Seoul waren schon immer angespannt.

Ward: Südkorea ist entscheidend. Sowohl Tokio als auch Seoul sind Verbündete der USA, aber keine Verbündeten des jeweils anderen. Das ist ein Problem. Ohne Koordination zwischen den beiden wird das von den USA geführte Bündnissystem in Asien viel schwächer. Dank (des früheren, Anm. d. Red.) Präsident Yoon Suk-yeol und Premierminister (bis Oktober 2024, d. Red.) Fumio Kishida haben sich die Beziehungen in letzter Zeit etwas entspannt, aber mit der neuen südkoreanischen Regierung ist diese Annäherung noch nicht gefestigt. Und wann immer sich Japan und Korea zerstreiten, profitieren China und Nordkorea davon.

WELT: Chinas Präsenz um die Senkaku-Inseln, ein von Japan verwaltetes, aber von China beanspruchtes Gebiet, hat zugenommen. Wie reagiert Tokio?

Ward: Seit Xi Jinping an die Macht gekommen ist, sieht man mehr chinesische Küstenwache rund um die Senkaku-Inseln fahren. Dies ist Teil dessen, was ich als lawfare bezeichne: der Versuch, eine chinesische Präsenz in umstrittenen Gewässern zu normalisieren. Japan reagiert darauf mit einer Verstärkung seiner Verteidigungskapazitäten in der Region. Aber beide Seiten wollen einen offenen Konflikt vermeiden. Es handelt sich eher um ein Unentschieden mit hohem Einsatz als um einen Schießkrieg – zumindest im Moment.

WELT: Was bedeutet es, wenn Sie sagen, dass Japan versucht, die Region zu „vernetzen“?

Ward: Damit ist gemeint, dass Japan flexible Allianzen und Partnerschaften jenseits der USA eingeht. So ist es etwa Teil der Quad (mit Indien, den USA und Australien) und dessen, was manche als „Squad“ bezeichnen (Japan, die USA, Australien und die Philippinen). Tokio vertieft auch die Beziehungen zu den Asean-Ländern. Die Idee dabei ist, Chinas strategisches Umfeld komplexer zu machen und gleichzeitig Washington zu zeigen, dass Japan seinen Teil dazu beiträgt, China abzuschrecken.

WELT: Aber viele Asean-Länder sind wirtschaftlich stark von China abhängig. Kann Japan dort wirklich Sicherheitsbeziehungen aufbauen?

Ward: Das ist eine Herausforderung. Deshalb experimentiert Japan mit Instrumenten wie der Offiziellen Sicherheitsunterstützung (OSA), einer neuen Form der Militärhilfe, die auf die Küstenwache und die Sicherheit im Seeverkehr abzielt, ohne offen auf Konfrontation zu gehen. Japan weiß, dass es die Länder nicht zwingen kann, sich für eine Seite zu entscheiden, und versucht daher, einen Mittelweg zu finden: Unterstützung für die Rechtsstaatlichkeit, ohne Peking zu provozieren.

WELT: Und was ist mit der Nato? Japan scheint darauf erpicht zu sein, sich ihr anzunähern.

Ward: Japan erwartet höchstwahrscheinlich nicht, dass die Nato im Falle eines chinesischen Angriffs auf Taiwan mitkämpft. Aber es möchte, dass die Nato versteht, dass die Sicherheit Asiens auch die Sicherheit Europas ist. Deshalb nehmen japanische Premierminister an Nato-Gipfeltreffen teil. Der französische Präsident Macron hat vor Kurzem ein gutes Argument vorgebracht: Wenn China die Nato nicht in Asien haben will, sollte es vielleicht Nordkorea davon abhalten, Raketen nach Europa zu schicken. Japans Ziel ist es, asiatische Sicherheitsfragen zu internationalisieren und strategische Unterstützung aus Europa zu erhalten.

WELT: Ist Japan bereit, ein völlig eigenständiger strategischer Akteur zu werden? Oder überholen die Reformen die Gesellschaft?

Ward: Die Reformen sind der öffentlichen Meinung voraus – aber nicht übermäßig. Japan hat schon früher bewiesen, dass es sich verändern kann. Denken Sie nur an den Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit. Aber jetzt ist ein breiterer gesellschaftlicher Wandel nötig: mehr Diskussionen über Verteidigung, ein stärkeres militärisch-akademisches Ökosystem und eine Öffentlichkeit, die versteht, warum Abschreckung wichtig ist. Wenn dies geschieht, wird Japan nicht nur auf die globalen Spannungen reagieren. Es wird sie mitgestalten.

Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.

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